Musterknaben in Hamburg — Vintage nach Maß

Wer den Stil der 30er bis 40er Jahre liebt, muss nicht auf Maßarbeit verzichten. Die Maßschneiderei Musterknaben in Hamburg schneidert authentisch Vintage-Stil. Und nicht nur den.



Bespoke im Karolinenviertel? Das Quartier hat sich stark gewandelt in den letzten Jahrzehnten. In den späten 70ern war es beliebt bei Punks, Alternativen und Zuwanderern, inzwischen erinnert es mehr an Prenzlauer Berg. Klassische Bespoke-Schneiderei erwartet man dort trotzdem nicht. Sie ist auch nicht ganz leicht zu entdecken, denn sie liegt ein wenig versteckt. Wer es eilig hat, könnte das Ladenschild und das Schaufenster übersehen. Und wer ahnt schon, dass hinter dem Namen „Musterknaben“ ein Schneiderduo steht, dass hier Maß für Anzüge im Stil der 20er und 30er Jahre nimmt, eine Treppe höher den Schnitt zeichnet und ganz in der Nähe in Winterhude näht? Zu diesem Stil passt die Swingmusik, die durch die offene Ladentür auf die Straße schallt.

Ich mache mich bemerkbar und höre kurz darauf Schritte auf der Treppe. Ein junger Mann kommt herunter und begrüßt mich höflich. Er könnte direkt mit einer Zeitmaschine aus dem England der 40er Jahre herübergekommen sein. Die Ärmel seines weit geschnittenen Oberhemds sind hochgekrempelt, das hochsitzende Beinkleid mit großzügiger Fußweite hat „forward pleats“ und wird von Hosenträger gehalten. Die Schuhe sind alte, gut geputzte und solide aussehende Brogues. Fassonschnitt, klassisches Brillengestell und die Pfeife runden das Bild ab. Vor mir steht Thomas Klein, einer der beiden Musterknaben. Sein Geschäftspartner und Mitgründer der GbR, der Herren- und Damenschneider sowie Gewandmeister Uwe Müller, ist leider verhindert. Wir hatten unser Treffen ursprünglich für einen anderen Tag vereinbart und dann auf meinen Wunsch verschieben müssen. So empfängt mich Thomas Klein allein.


„Neulich war ein ganz junger Mann hier, ein Schüler“, berichtet Thomas Klein, während er seine Pfeife neu entzündet. „Er hatte sich einen Anzug gekauft, den wir als Muster zufälligerweise in seiner Größe hier hatten. Es stellte sich heraus, dass er sich das Geld dafür mit einem Ferienjob erarbeitet hat. Ich kriege jetzt noch Gänsehaut, wenn ich an diese Begegnung denke“. Er selbst hat seine Kleidung früher viel unbewusster eingekauft, inzwischen ist ihm klar, dass die Massenmode diverse Probleme mit sich bringt: „Wer bei einer von den großen Modeketten kauft, muss seine ethischen Ansprüche herunterschrauben“. Die Musterknaben stellen den Gegenentwurf zu dieser Art von „Kleenex-Mode“ dar, wie man sie in Italien bezeichnet. Textile Eintagsfliegen, die man nach Benutzung wegwirft. „Wir wollen nachhaltige, handgemachte Mode machen“ erklärt Thomas Klein. Aber eben nicht im Ökolook. Bei Musterknaben geht es um kernige Tweeds, Cheviots, Donegals oder Thornproofs, um Cavalry Twill, durablen Kord oder schweren Serge, um Glencheck, Fischgrat oder Houndstooth.

Wir gehen in das Obergeschoss, dort haben sich die Musterknaben einen kleinen Arbeitsplatz eingerichtet. Die eigentliche Werkstatt liegt auf Kampnagel, der legendären „Kulturfabrik“. Thomas Klein arbeitet gerade an einem Hosenschnitt. Geodreieck und Bleistift liegen noch auf dem Papier. In einem Regal in der Ecke stapeln sich schwere Wollstoffe, einige Hosenanproben hängen auf Bügeln bereit. Thomas Klein nimmt eine Leinenhose heraus, die gerade zum ersten Mal probiert worden ist. Der Stoff ist leicht meliert, er stammt aus Italien. Die Hose hat hinten einen Spitzbund, an den Seiten Schnallen. Innen werden später noch die Knöpfe für Hosenträger angenäht. Die Fußweite ist so bemessen, dass sie etwa zwei Drittel des Schuhs bedeckt. „Ich trage diesen Stil, weil er mir gefällt. Das ist kein Reenactment“, betont Thomas Klein. Alles, was hier gemacht und verkauft wird, nähen die Musterknaben selbst. Für die Maßanfertigungen wird immer ein individueller Schnitt gezeichnet, der bei Anproben optimiert wird. Bei der Verarbeitung kann der Kunde zwischen verschiedenen Qualitätsstufen wählen. Als Beispiel zeigt Thomas Klein ein Sakko aus braunem Donegal. Der Stoff ist schwer, die Einlage wurde hier fixiert. Spürbar oder sichtbar ist das bei so einem Stoff nicht. Wer mag, kann die von Hand pikierte Verarbeitung bekommen, sie schließt die komplette Bespoke-Verarbeitung ein bis hin zu handgenähten Knopflöchern.