Tweed — Die Briten-Tracht

Ein einziges Wort steht für den britischen Lebensstil: Tweed. Man liest es und vor dem inneren Auge beginnt eine Dia-Schau. Schottische Moore, Whisky und Portwein, gemütliche Sofas, Moorhuhnjagd, abgewetzte Jacken mit Lederflicken an den Ellbogen. Tweed ist alles, was wir an den Britischen Inseln lieben und noch viel mehr das, was wir uns von ihnen erträumen. Eine überschaubare Welt voll liebenswürdiger Exzentriker, ein Abfolge köstlicher Rituale vom reichhaltigen Frühstück über das Lunch im Garten eines alten Pubs bis zum legendären Afternoon Tea mit Scones, Finger Sandwiches und Clotted Cream. Tweed ist bei all dem präsent, als Stoff für Kleidung oder Kissenbezug, als Mütze, Tasche, Schal oder Reiseplaid. 

Sachlich betrachtet ist Tweed ein Streichgarngewebe, zumeist in Köperbindung. Diese Webart erkennt man an der Diagonalstruktur der Fäden. Ein typischer Stoff in Köperbindung ist der Twill der Chino. Streichgarn heißt, dass ein Faden aus kürzerem, stärker gekräuseltem und leichter filzendem Schafhaar gesponnen wurde. Dieser Faden wird mit einem anderen Faden zusammengedreht, wodurch ein Zwirn entsteht. Streichgarnstoffe fassen sich rau, wollig-weich, faserig oder sogar kratzig an. Im Gegensatz zu den sog genannten Kammgarnstoffen. Das Garn, aus dem sie gewebt werden, besteht aus längeren und feineren Fasern, typischerweise vom Merino-Schaf. Kammgarnstoffe fühlen sich glatter und feiner an, sie sind heute die übliche Wahl für Businessanzüge, Blazer und Hosen. Tweed wird in der Mode traditionell für ländliche Kleidung eingesetzt, also Klassiker des britischen Country-Style wie Tweedjacke, Tweedanzug, Mäntel, Mützen oder die knielangen Plus Fours oder Breeches. Je nach Einsatzgebiet unterscheidet der Schneider die Tweeds nach Stoffen Jacken (Jacketings), Hosen (trouserings) oder Mäntel (Coatings). Tweeds, die sich für Hosen eignen, sind härter und beulen weniger aus. Auch Innenarchitekten und Polsterer setzen Tweed ein, z. B. als Bezug für Sessel oder Sofa, Kissenhülle, Überwürfe oder sogar als Wandbespannung.

Die Herkunft des Wortes Tweed ist nicht ganz geklärt. Mit dem schottischen Fluss gleichen Namens, der in Berwick-upon-Tweed in die Nordsee mündet, hat er nur indirekt zu tun. Sofern man einer beliebten und etwas legendenhaften Erklärung des Stoffnamens glauben darf. Im 19. Jahrhundert schrieb ein Kontorist in der an den Scottish Borders gelegenen Stadt Hawick, schon damals ein Zentrum der wollverarbeitenden Industrie, eine Rechnung für eine Lieferung Stoff, die nach London spediert wurde. Der Empfänger las „Tweel“, die damalige Bezeichnung für den als Köperbindung gewebten Wollstoff, irrtümlich als „Tweed“. Vielleicht in Assoziation mit dem Fluss. So wurde angeblich der Name geboren. Eine Geschichte, die perfekt zu dem Stoff aus dem unwirtlichen Norden der britischen Inseln passt. Da er dort ursprünglich nur für den häuslichen und sehr begrenzt lokalen Markt daheim gewebt wurde, wurden Tweedstoffe oft auch als Homespun tituliert. Dies bedeutet so viel wie „zu Hause gesponnen“, was sich von der Herkunft der Textilien ableitet.

Bis zur französischen Revolution kleidete sich die Oberschicht Europas in Leinen, Seide und Wollstoff, danach setzte sich auf breiter Front die Wolle als wichtigstes Fasermaterial durch. Sie stammt von Schafen, die überall in Europa heimisch sind. Das Klima, in dem sie leben, bestimmt die Qualität ihres Haarkleids. Je ungemütlicher das Wetter, desto dicker die Wolle. Die Merinoschafe Australiens und Neuseelands, damals Kolonien der britischen Krone, liefern die feinsten und leichtesten Fasern, denn in ihrer Heimat kann es sehr heiß werden. Die Schaffe, die im schottischen Hochland und auf den Hebrideninseln vor der Westküste Schottlands leben, wappnen sich dagegen mit grober Wolle Wind und Regen. Die Stoffe, die auf den Inseln, z. B. Lewis, Harris, Uist, Barra oder Benbecula gewebt wurden, waren wie die Wolle ein guter Schutz gegen die im ganzen Jahr nicht allzu kalte aber stets feuchte Witterung. Pauschal gelten sie heute als Tweed, einige von ihnen rangieren aber unter dem Namen der Schafrasse, z. B. Cheviot.

Der wohl berühmteste Tweed stammt von der Insel Harris, das Label mit der geschützten Herkunftsbezeichnung ist ein Klassiker und jedem England- und Schottland wohlbekannt. Es mutet modern an, einen Stoff, der eine regional genau definierbare Herkunft vorweisen kann, vor Nachahmung zu schützen. So, wie heute z. B. Käsesorten durch die EU ein Herkunftszertifikat bekommen, sollte auch der Harris-Tweed als Unikat aus einer definierten Region erkennbar bleiben. Dies wurde bereits 1840 angestrebt, als Lady Dunmore, die Frau des Gutsherrn von Harris, die besten Erzeugnisse ihrer Weber prämierte. „Original-Harris-Tweed“ dürfen sich heute nur Stoffe nennen, die von einer Zertifizierungsstelle als von den Inseln Harris oder Lewis stammend ausgezeichnet werden. Das Label zeigt als Logo einen stilisierten Reichsapfel, es garantiert dem Käufer, dass der Stoff von Hand auf den äußeren Hebriden aus 100 Prozent Schurwolle gefärbt, gesponnen, gewebt und verwedelt wurde. Seit 1905 wird es auf jeden Meter Stoff gestempelt.

Die Wolle stammt zumeist vom schottischen Festland und wird zu den Inseln verschifft, alles weitere passiert dort. Die charakteristischen Farben der Garne gehen auf natürliche Farbstoffe zurück. Das Kreuzkraut liefert das Orange, Weizen und Iris das Grün und Flechten ein Rot. Weitere Farben wurden aus Farnwurzeln oder Torfruß gewonnen. Seit Ende des 19. Jahrhunderts kommen überwiegend künstliche Farbstoffe zum Einsatz, einige wenige Garnlieferanten setzen aber nach wie vor auf die natürliche Palette. Die Stoffe werden in aller Regel aus Garnen in verschiedenen Farben gewebt, auch die scheinbar einfarbigen Qualitäten. So kann ein Dunkelgrün auch Rostrot und Gelb enthalten, auch wenn dies beim fertigen Produkt nur unter der Lupe erkennbar ist. Das Grün, das aus verschieden farbigen Garnen komponiert ist, hat wesentlich mehr Tiefe und Lebendigkeit als die im Stück gefärbten Stoffe. Auch in Irland gibt es Tweed. Im County Donegal werden seit vier Jahrhunderten Streichgarnstoffe gewebt, deren Griff und Optik an schottische Tweeds erinnern. Typisch für Donegal-Tweeds ist ihre körnige Struktur mit farbigen Einsprengseln. 

Tweed war ursprünglich ein rein lokal in Schottland und Irland verwendeter Stoff, den die Einheimischen lediglich zum Eigenverbrauch produzierten. Unter Königin Viktoria kam Schottland im 19. Jahrhundert bei der Oberschicht mehr und mehr in Mode. Tartans und Kilts, schottisches Gebäck und Whisky, schottische Literatur und Dichtkunst erlebten wachsende Popularität. Unter wohlhabenden Briten galt als schick, sich einen Jagdsitz in Schottland zuzulegen, die Landschaft und die Historie wurde romantisch verklärt. Auf den Gütern der ursprünglichen Eigentümer war es üblich, dass die Tartans der verschiedenen Clans von Wildhütern und Bediensteten getragen wurden. Wenn die Eigentümer wechselten, war dies natürlich nicht mehr möglich. Als Königin Victorias Prinzgemahl Albert 1848 die Ländereien von Balmoral erwarb, entwarf er als eine der ersten Maßnahmen einen Tweed für die Förster und Jagdhelfer seines schottischen Landsitzes, den inzwischen berühmten Balmoral Tweed. Dieser Stoff war einer der ersten Estate-Tweeds der Geschichte, also eines Tartan-Ersatzes für nichtschottische Großgrundbesitzer und ihr Personal. Dutzende weitere folgten, einige von ihnen haben Modegeschichte geschrieben, z. B. das Glenurquhart-Dessin. Es wurde in den 1840ern von Elizabeth Macdougall entworfen und dann von der Countess von Seafield für ihr Gut übernommen. In Deutschland ist das Muster als Glencheck bekannt, in Österreich als Esterhazy und in Frankreich als Prince de Galle. 

Die Bezeichnungen der einzelnen Tweed-Qualitäten leiten sich entweder von der Schafrasse ab, der wir die Wolle zu verdanken haben, von der Provenienz des Stoffs, z. B. Donegal, von Webmustern wie Fischgrat und im Fall der „district checks“ von den Ländereien, auf denen das Design erstmals getragen wurde. Auch Kenner haben größte Schwierigkeiten, die gut 100 in den Stoffmusterbüchern der Webereien dokumentierten Dessins auseinander zu halten. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Namen wie „Ardtalnaig“, „Ballindallogh“ oder „Kylnadrochit“ für Nicht-Schotten kaum aussprechbar sind. Das Stoffgewicht der Zungenbrecher liegt häufig bei 560 g oder mehr pro laufendem Meter, die etwas weichere Lambswoolware ist mit 380 g da schon fast ein Sommerstöffchen. Zum Vergleich: Der Super-100-Zwirn eines normalen Ganzjahresanzug fürs Büro bringt gerade mal 230 g auf die Waage. Mit modernen Leichtigkeitsansprüchen ist das nicht vereinbar, dafür halten diese Gewebe oft zwei bis drei Menschenleben lang bevor erste Abnutzungsspuren sichtbar werden. 

Tweed ist mal in Mode und dann wieder nicht, für die echten Fans ist der schwere Stoff eine Lebenseinstellung. Er steht für die Verbundenheit mit der Tradition, regionale Produkte und Nachhaltigkeit. Wer ein Sakko aus Harris-Tweed kauft, kann sicher sein, dass der Stoff unter menschenwürdigen und umweltgerechten Bedingungen gewebt wurde. Und da so ein Tuch bei richtiger Pflege lange hält, schont so eine Jacke die Ressourcen. Tweed ist für Naturfreunde jeder Couleur genau die richtige Wahl, ob nun Jäger, Vogelkundler, Wanderer, Waldfreund oder Angler. Denn viele Tweeds sind perfekte Tarnkleidung, ihre Grün-, Braun- und Gelbtöne passen sich perfekt an die Landschaft an. Das ist kein Zufall, denn auf den Estates in Schottland sollten sie die Förster und Treiber möglichst unsichtbar machen. Tweed ist aber auch der ultimative Stoff für Akademiker und Studenten, eine einzige Jacke lässt sich mit verschiedenen Hosen zu Outfits für alle Anlässe kombinieren. Nicht umsonst gehört das mittelgraue Harris-Tweed-Sakko zu den Klassikern der Preppy-Garderobe. Sie ist in jüngerer Zeit wieder extrem im Trend und hat dem Tweed dadurch zu einem erneuten Comeback verholfen. Was vielleicht das wachsende Interesse an einer Radsport-Event der etwas anderen Art erklärt, dem so genannten Tweed Run. Dabei treffen sich in Tweed gewandete Radfahrer zu einer gemeinsamen Ausfahrt auf mehr oder minder klassischen Fahrradmodellen. Natürlich kommt die Idee dafür aus England, doch wie der Tweed selbst, ist sie mittlerweile in vielen Ländern populär. Tweed, der beste Botschafter der Briten.