Die Potsdamer Herrenschneiderin Kathrin Emmer

Seit 20 Jahren ist die Münchener Maßschneiderin selbstständig, ihre Kunden kommen aus ganz unterschiedlichen Berufen. Allen gemeinsam ist die Liebe zur Handarbeit und Individualität des „bespoke“ aus Potsdam.

November in Berlin. Es ist grau und kalt. Tommi Aittala und ich besteigen am Bahnhof Zoo die S7 nach Potsdam. Wir fahren nach Westen vorbei an den Stationen Charlottenburg, Grunewald und Wannsee bis Griebnitzsee. In der Bahn sitzen vor allem Studenten, die zusammen mit uns aussteigen. Sie sind auf dem Weg zur Uni in Potsdam. Der Bahnhof hat eine lange Geschichte. 1874 wurde an der Bahnstrecke Berlin-Potsdam ein Holzpavillon errichtet, die Reisenden erreichten von dem Haltepunkt die neue Villensiedlung Neubabelsberg. 1931 entstand das heutige Bahnhofsgebäude. Zwischenzeitlich hieß die Station Babelsberg-Ufastadt, seit 1949 trägt sie den heutigen Namen. Wir verlassen sie nach links in die Rudolf-Breitscheid-Straße. Um den Bahnhof herum stehen einige repräsentative Neubauten, nach ein paar hundert Metern überwiegen kleinere Villen und Einfamilienhäuser. Nach etwa zehn Minuten biegen wir eine kleine Stichstraße ein. Wir kennen den Weg von mehreren Besuchen. Das Atelier liegt in einem Einfamilienhaus. Kein Ladenschild oder Schaufenster weist auf die Schneiderei hin, auf dem Klingelschild steht schlicht „Emmer“.

Die in München geborene Herrenschneidermeisterin trägt einen Blazer und grüne Breitkordhosen mit Bundfalten. Unter dem Pullover schaut der Kragen einer Bluse hervor. Sie wirkt jung, fast mädchenhaft. Schwer vorzustellen, dass sie bereits 31 Jahre im Beruf ist, 20 Jahre davon als selbstständige Herrenschneidermeisterin.
Sie hat 1992 ihre Lehre bei dem Münchener Obermeister Karl Werstein begonnen, ihre Gesellenjahre bei Volkmar Arnulf in Berlin abgeleistet. Arnulf ist der Altmeister der deutschen Herrenschneiderei, Kollegen sprechen von ihm durchweg mit größtem Respekt. Sein Atelier lag damals noch am Kurfürstendamm, inzwischen ist er auch in Potsdam ansässig. Kathrin Emmer beendete ihre Zeit bei Arnulf mit der Meisterprüfung und eröffnete 2003 ein Atelier im Wedding. Eine etwas ungewöhnliche Lage für handgemachte Herrenanzüge, Maßanzugträger vermutet man eher in Charlottenburg. Dort wohnten ihre Kunden zum Teil auch. Schon damals empfing sie Kunden nur nach Terminvereinbarung. Auf ein Schaufenster in guter Lage, das Laufkundschaft anlocken soll, hat sie damals wie heute verzichtet. Herrenschneiderei lebt von Empfehlungen. 2012 ist sie von Berlin raus nach Potsdam gezogen, in ein neu gebautes Haus, mit Mann und Tochter.


Das Atelier liegt im Souterrain der modernen Stadtvilla. Es geht eine kleine Treppe hinab und durch eine Glastür in die helle Werkstatt. Links am Fenster steht der Zuschneidetisch, in der Mitte zwischen den Fenstern ein großer Spiegel. Rechts Sofa, Sitzgruppe und spanische Wand. Kathrin Emmer arbeitet allein, sie macht alles selbst vom Zuschnitt bis zu den handumsäumten Knopflöchern. Sie hat es immer mal mit Großstückschneidern probiert, denen sie Jacken oder Hosen zur Anfertigung gegeben hat. Am Ende war sie aber nie zufrieden und musste so viel Zeit in die Nacharbeit investieren, dass der Zeitgewinn dahin war. Als Meisterin könnte sie einen Lehrling ausbilden, doch ihr Atelier ist ein zu eng für zwei Schneider.

Deutsche Herrenschneider sind international weniger renommiert als ihre Kollegen aus Italien oder England. Das hat viele Gründe. Bis in die 1960er Jahre stand die ganze Welt im Schatten der Londoner Herrenschneider, obwohl damals in jedem europäischen Land noch sehr viele Maßschneider aktiv waren. Sogar im Ostblock, dort waren nur die Stoffe aus dem Westen schwer zu bekommen. Schon damals gab es Kunden, die ihre Anzüge im Ausland machen ließen, Maßschneiderei war aber zum großen Teil noch ein rein lokales Geschäft. Wegen der Anproben ist es schwierig, dieses Handwerk auf Entfernung zu verkaufen. Reisen kosten Zeit und Geld, den Kunden oder den Schneider. In den 1980ern machten sich die Londoner Schneider dennoch auf den Weg, zumeist in die USA, außerdem nach Deutschland, Frankreich und in die Schweiz. Italienische Schneider sprangen erst später auf diesen Zug auf, da sie im Land sehr viel Kunden hatten. Einheimische und Ausländer. 

Die Corona-Krise hat vieles unterbrochen, was in Sachen „trunkshows“ über Jahrzehnte aufgebaut worden ist. Einige Kunden begannen sich in der Folge wieder für heimische Handwerker zu interessieren. Und wer ohnehin bei sich zu Hause hat arbeiten lassen, war froh. Auch wenn alle wieder reisen können, sind Nachwirkungen der Pandemie noch zu spüren. Auch bei Kathrin Emmer. Früher hat sie überwiegend Geschäftsanzüge genäht, Sakkos und sportlichere Anzüge waren eher die Ausnahme. Im Moment ist es eher umgekehrt. Kathrin Emmer liefert zwar nach wie vor viele klassische Anzüge, Sakkos und Mäntel, die Kunden lassen aber vermehrt Teile machen, die vielseitiger einsetzbar sind. Bei unserem Besuch konnten wir ein paar schöne Beispiele für diese Entwicklung sehen. Ein doppelreihiger Anzug aus hellem Tweed aus dem Ecology-Kollektion von Dugdale Brothers. Ein Mantel aus schwerem, dunkelblauen Wollstoff (810 g/ m) aus dem Bündel „Classic Overcoatings“ von Holland & Sherry, ein zweireihiges Glencheck-Sportsakko aus Stoff von derselben Weberei, sowie ein hellblaues Sportsakko mit aufgesetzten Taschen aus einem Lammwolle-Kaschmir-Gemisch von Fox Brothers.

Der Tweedanzug ist vom Entwurf her, dem Schnitt, der Verarbeitung und nicht zuletzt vom Stoff her ein sehr typisches Beispiel für „bespoke“. Aus Diskretionsgründen hat Kathrin Emmer keinen Einblick in den Entstehungsprozess der Details gegeben, sie hat lediglich verraten, dass der Anzug im Dialog mit dem Kunden entstanden ist. Der Stoff besteht aus ungefärbter Wolle der Schafrassen Jacobs und Black Welsh Mountain, komplett verarbeitet von der Rohfaser bis zur Veredelung in Huddersfield. Die Farbe entsteht rein durch die Mischung verschiedenfarbiger Fasern, jedes „Batch“ fällt also geringfügig anders aus. Das Gewicht beträgt 520 g/ m, das ist etwas weniger als die meisten Alsport-Tweeds, also eine gut tragbare Ware für kältere Tage. Die Bundfaltenhosen haben Seitenschnallen, einen breiten Bund und eine kleine Billetttasche. Statt Aufschlägen ziert ein konstrastierender Handstich den Saum. Bei der zweireihigen Jacke fällt der karierte Oberkragen sofort ins Auge, er ist aus kariertem Tweed gearbeitet, der ebenfalls aus dem Ecology-Bündel von Dugdale Brothers stammt. Und an der Rückseite der abgerundete Sattel, dessen Naht, die mit einem konstrastierenden Handstich verziert ist, in die Ärmelnaht weiterläuft.

Der zweireihige, mittellange Mantel wirkt beim ersten Hinsehen sehr klassisch, dann entdeckt man die roten Akzente. Sie verleihen ihm einen Hauch von Gardeuniform. Der Stoff ist nach heutigen Begriffen ziemlich schwer, an kalten Tagen aber perfekt. Wenn man so eine Mantel über einen Tweedsakko oder einem schweren Anzug trägt, ist man auch bei längeren Ausgängen gegen Minustemperaturen gewappnet. An weniger kalten Tagen kann man so einen Mantel über Hemd und leichtem Kaschmirpullover tragen. Einen spannenden Kontrast zur militärischen Strenge des Mantels setzt das rote Innenfutter mit kleinem Blütenmuster. Ein Zierstich rund um den Eingriff an der Zungentasche nimmt das Rot des Futters erneut auf.

Das Sakko aus dem hellblauen Lammwolle-Kaschmir-Stoff von Fox Brothers ist noch nicht ganz fertig, die aufgesetzten Taschen sind in diesem Stadium noch Platzhalter aus Leinen für die Anprobe. Auch das ist eben „bespoke“, dass der Kunde sehr weitgehende Gestaltungsfreiheit hat bei allen Details. Maßkonfektion ist da, bei allen Möglichkeiten, die sie bietet, ein wenig eingeschränkter. So kann man in aller Regel nicht Form und Umfang oder auch die Position von Taschen frei wählen, meistens nur in bestimmten Größenschritten entsprechend den vorhandenen Stanzformen. Kathrin Emmer wird dagegen, wenn ein stilistisches Detail vor der Anprobe nicht geklärt oder festgelegt werden konnte, bei der Anprobe eine Entscheidungshilfe liefern. Beispielsweise in Form einen provisorisch aufgehefteten oder einen nur als Umriss aufgezeichneten Tasche.

Neben den drei vorgestellten Teilen, die ein wenig aus dem Rahmen fallen, hingen in der Werkstatt auch eher konventionelle Geschäftsanzüge in dunklen Grau- oder Blautönen. Außerdem wurden gerade zwei blaue Anzüge zum Aufbügeln vorbeigebracht, ein Service, der bei Kathrin Emmer selbstverständlich dazu gehört. Danach gefragt, ob sie sich eher als die „kreative“ Maßschneiderei sieht oder als Lieferantin solider Klassik für Geschäft und Anlass, antwortet sie sehr vorsichtig. Sie möchte weder in die eine, noch in die andere Schublade gesteckt werden. Diese Zurückhaltung bei der Selbstbeschreibung ist verständlich. Wenn man als Schneiderin erst einmal als Spezialistin für exzentrische Wünsche abgebucht ist, kommen nicht mehr die konservativen Anzugträger. Ich kenne die Arbeit von Kathrin Emmer seit Anbeginn ihrer Selbstständigkeit, nach meiner Beobachtung kann sie beides sehr gut: Klassische Herrenschneiderei, ausgerichtet an der Tradition. Und stilistische Exkurse in Richtung Design. Beides von Schnitt und Verarbeitung höchst präzise umgesetzt. Und stets komplett im Hause zugeschnitten und genäht.