Heron’s Ghyll — Englischer Stil für Kosmopoliten

Seit der Pandemie wird diskutiert, inwieweit die Herrenmode sich durch die Arbeit im Home-Office verändert hat. Wenn jemand die Pandemie verschlafen hätte und er nach dem Aufstehen durch die Geschäfte bummelt, würde ihm nicht unbedingt auffallen, dass sich die Mode grundlegend verändert hat. Es wurde vorausgesagt, dass sie noch lässiger werden würde, sozusage als Fortsetzung der bequemen Looks aus dem Home-Office. Andere prognostizierten eine neue Freude an der so lange nicht getragenen förmlicheren Kleidung. Beides ist nicht zu beobachten. Wir sehen, wie vor der Pandemie, ein Nebeneinander von förmlich und lässig, klassisch und sportlich, experimentell und konservativ.

Dennoch ist so etwas wie ein Unbehagen an der seit Jahrzehnten üblichen Anzugformel zu verspüren. Ob das an der Pandemie liegt oder ob sie etwas beschleunigt hat, was ohnehin im Entstehen war, lässt sich nicht sagen. Ich selbst bemerke an mir an mir eine Vorliebe für Alternativen zum üblichen Schnitt von Anzugjacken und Sakkos. Deshalb habe ich bei der Pitti Uomo im Juni 2023 in Florenz am Tag Leinenjacken im bayerisch-österreichischen Stil getragen und nur abends eine dunkelblaue Tebajacke als Zugeständnis an den italienischen Dresscode.

Früher hätte es vielleicht geheißen, dass die Marke den Individualisten oder, um begrifflich noch weiter zurückzugreifen, den Nonkonformisten, ansprechen soll.

Meine Leinenjacken brachten mich mit einer Kollektion in Berührung, die sehr meinem derzeitigen Gefühl entspricht. Ich bekam die Nachricht von einer Bekannten, dass ich den Stand von Heron’s Ghyll besuchen sollte. Als ich daran vorübergegangen war, stach dem Gründer der Marke, Mark Francis, meine Jacke ins Auge. Er erzählte meiner Bekannten davon, ohne zu wissen, dass sie mich kennt. Sie stellte daraufhin den Kontakt her. Am nächsten Tag besuchte ich mit Tommi Aittala Heron’s Ghyll. Die Kollektion sprach mich an, da sie genau die Mischung aus Förmlichkeit und Unkonventionalität bot, die ich persönlich gerade suche und die ich für die nächsten Jahre auch für wegweisend halte. Weich geschneiderte, futterlose Jacken mit Stehkragen, teilweise mit Raglangärmeln. Zu einigen Jacken Hosen aus dem gleichen Stoff.

Vorwiegend irisches Leinen, teilweise auch Baumwolle. Die Knöpfe oftmals mit dem Oberstoff überzogen. Ich probierte einige der Jacken an, um Passform und Tragegefühl zu testen. Mein Favorit war ein Anzug aus braunem Leinen in Glencheckdessin. Eine Mischung aus Duke-of-Windsor-Stil der 1940er und James-Bond-Bösewicht der 1960er. Brauner Glencheck ist ohnehin einer meiner Favoriten für den Sommer, in Kombination mit dem Schnitt von Heron’s Ghyll entsteht eine spannungsreiche Fusion.

Tatsächlich ist das so etwas wie das Leitmotiv von Label und Kollektion — Fusion. Mark Francis verwendet diesen Begriff nicht, wenn er seine Marke beschreibt. Er spricht von einer „kosmopolitischen“ Marke mit einem „pluriversalen Blick auf die Zukunft.“ Der Begriff „pluriversal“ steht im Gegensatz zu „universal“, er bezeichnet die Idee, dass es nicht einen „universellen“ Blick gibt, z. B. auf Geschichte, sondern eine Vielzahl von Blickweisen. Und so soll Heron’s Ghyll eine „weltweite“ Zielgruppe ansprechen, der „Identitäten zu facettenreich“ und „reich an Komplexität“ sind, um in „vorgefasste Ideale hineinzupassen“. Früher hätte es vielleicht geheißen, dass die Marke den Individualisten oder, um begrifflich noch weiter zurückzugreifen, den Nonkonformisten, ansprechen soll. Das gelingt meines Erachtens sehr gut. Denn die Designidee wird verbunden mit einem hohen Qualitätsanspruch. Es geht also nicht um hohe Ideale, die am Ende doch nur Image bleiben, weil kostengünstig in Süd- oder Mitteleuropa oder gar Asien gefertigt wird. Sondern auch einen ganzheitlichen Anspruch, der dann auch mit einem höheren Preis einhergeht. Der aber nicht in erster Linie aus der Marge resulutiert, vielmehr aus den Kosten für die eingesetzten Stoffe, die in Großbritannien gewebt werden, und den Lohn- und Raumkosten in London.

Trotz des sehr zeitgemäßen Konzepts ist das Label, das Mark Francis kreiert hat, durch und durch English. Was durchaus nicht im Widerspruch zur Offenheit des Blicks auf die Welt steht. Großbritannien hat als einstige Weltmacht viele Einflüsse aus verschiedenen Kulturen aufgenommen und integriert, auch und gerade in der Herrenmode. Insofern passt es, dass der Name und das Logo des Labels vom Klang des Namens und dem Design her auch zu einem Kunstbuchverlag passen könnte. Heron’s Ghyll ist ein Weiler in East Sussex, der Heimat von Ned, des Ehemanns von Mark Francis. Der Pfarrgarten der katholischen Kirche St. John the Evangelist wurde von dem Dichter und Literaturkritiker Coventry Patmore angelegt. Mark gefiel der Ortsname, er klingt für ihn romantisch, schön und rein, wie aus einem der Märchen, die er als Kind so geliebt hat. Das Logo hat Mark Francis extra entwerfen lassen.

Die Inspiration dafür stammt, überraschenderweise, von den Logos alter englischer Privatbanken. „Wir wollen, wie die Banker früher, die Beziehung zu unseren Kunden über einen langen Zeitraum pflegen und nähren“, erklärt Mark Francis. Er selbst ist fachlich nicht einschlägig vorbelastet, seine Studien in den USA waren breit angelegt, neben Wirtschaftswissenschaften belegte er z B. auch Physik und Kunstgeschichte. Nach dem Examen arbeitet er im Investment Banking und „corporate strategy“, anschließend machte er einen MBA an der privaten Wirtschaftshochschule INSEAD in Frankreich. Bei Farfetch sammelt er erste direkte Erfahrungen im Modebereich, bevor er dann Heron’s Ghyll gründete. Sein Interesse an Kleidung und Kleidungskultur reicht bis in seine Kindheit zurück. Schon früh hatte er den Wunsch, eine eigene Kollektion auf die Beine zu stellen. Schon als Teenager hatte er einen eigenen Schneider, was nach seiner Angabe in Malaysia nicht ungewöhnlich ist. Er wusste also, wie man Kleidung nach eigenen Wünschen fertigen lässt und auch die Quellen für die Stoffe. Und er hat auch einfach Kleidungsstücke auseinandergenommen und wieder zusammengenäht, um die Prinzipien von Schnitt und Schneiderei zu ergründen. Er sieht den Prozess der Kollektionserstellung aber als Gemeinschaftsaufgabe, die arbeitsteilig angegangen werden sollte. Sein größtes Talent im beruflichen Bereich ist das Finden guter Leute und ihr Management. Mit seinem Team ist Mark sehr glücklich, für ihn gehören seine „artisans“ zu den besten in London.