Besuch bei Ludwig Reiter in Wien, Teil 1

Die Geschichte der österreichischen Schuhmanufaktur Ludwig Reiter beginnt laut Firmenchronik Jahre 1885. In diesem Jahr eröffnete Ludwig Reiter I. zusammen mit seiner Frau Anna in Wien eine Schuhmacherwerkstatt. 100 Jahre später, im Jahre 1985, übernimmt sein Urenkel Till Reiter die Leitung des Unternehmens. In diesem Zeitraum war aus einem kleinen Handwerksbetrieb eine auf nach Goodyear-Methode gefertigte Schuhe spezialisierte Manufaktur geworden. Oder, um den etwas weniger romantischen Begriff zu verwenden, eine Fabrik für rahmengenähtes Schuhwerk. Die einzige, die in Wien übrig geblieben war.

Schuhe wurden in Europa seit der Barockzeit von Hand rahmengenäht. Die rahmengenähte Machart war eine von mehreren, die parallel existierten. Welcher Schuhmacher als erster auf die Idee gekommen ist, Schaft und Rahmen mit einer Naht an der Unterseite der Brandsohle zu befestigen, ist nicht bekannt. Die Vorteile dieser Methode machte sie bald zur bevorzugten Herstellungsweise für Schuhe, die besonders formstabil und haltbar sein sollten. 

Im 16. Jahrhundert war die Schuhmacherei noch reine Handwerksarbeit, wer viele Schuhe brauchte, z. B. das Militär, brauchte viele Handwerker. In der Regel arbeiteten sie in kleinen Werkstätten, auf dem Lande oft auch zu Hause. Meistens musste die ganze Familie mithelfen. Die Frauen nähten die Schäfte, die Kinder leisteten Hilfsdienste oder machten Botengänge. Der kraftzehrende Bodenbau war Männerarbeit. Als im 19. Jahrhundert der Bedarf nach hochwertigen Konfektionsschuhen wuchs, bescherte das den Handwerkern viel Arbeit. 

Auch Ludwig Reiter profitierte damals von Großaufträgen, z. B. lieferte seine Werkstatt rahmengenähte Offiziersschuhe, Stiefeletten zur Ausgehuniform und Reitstiefel. Die Arbeitsweise war damals nicht mehr komplett händisch, so entstanden Konfektionsleisten seit 1821 in Serie auf der Drehbank. 1856 war die erste Nähmaschine für Leder auf den Markt gekommen. Die Schäfte wurden aber immer noch von Hand über die Leisten gezogen, einziges Hilfsmittel waren Zangen. Eingestochen und gedoppelt wurde aber noch von Hand. In einer Werkstatt wie der von Ludwig Reiter wurde im Großen und Ganzen so gearbeitet, wie wir es heute noch bei traditionell gesonnenen Maßschuhmachern sehen können.

In den USA war die Schuhindustrie schon weiter. 1869 war eine Einstechmaschine erfunden worden, die unter Regie des amerikanischen Unternehmers Charles Goodyear durch mehrere Patente verbessert wurde. Sie ermöglichte es, Schaft, Rahmen und Brandsohle maschinell zusammenzunähen. Dieser Arbeitsgang, das Einstechen, ging Dank dieser Maschine schneller und ohne Kraftaufwand für einen Handwerker. Die Maschine machte nun die Arbeit, der Arbeiter bediente sie nur noch. Später entwickelte Goodyear eine Maschine, mit der die Laufsohle an den Rahmen gedoppelt werden konnte. Auch dies war in Handarbeit sehr kraft- und zeitaufwändig. 

Die Kunde von diesen Maschinen drang über England auch nach Mitteleuropa und so ging Ludwig Reiter II, der Sohn des Gründers, nach der Lehre im elterlichen Betrieb auf Wanderschaft, die ihn schließlich auch in die USA führte. Er blieb dort von 1902 bis 1908 und studierte in dieser Zeit die maschinengestützte Herstellungsmethode rahmengenähter Schuhe, die inzwischen als Goodyear-Methode bekannt war.

Als Ludwig Reiter II. zurückgekehrt war, wandelte er ab 1909 den elterlichen Handwerksbetrieb schrittweise in eine kleine Schuhfabrik nach dem damals neuesten Stand der Technik um. Dazu wurden neue Firmenräume bezogen und zehn Jahre später, im Jahr 1919, die Zahl der Mitarbeiter war inzwischen auf 70 angewachsen, wurde in Wien ein erstes eigenes Schuhgeschäft eröffnet, das „Schuhhaus Piccadilly“ an der Wiedner Hauptstraße 41 im IV. Bezirk.. „Piccadilly“ hieß auch eine von Ludwig Reiter kreierte Schuhmarke, die dort verkauft wurde.

In den 1920er und 1930er Jahren entwickelte sich Ludwig Reiter sich zu einem der führenden Wiener Schuhhersteller, einige der heute gefertigten Modellformen gehen auf diese Zeit zurück. 1934 wurden die Marke „Fox“ eingeführt, unter ihrem Dach wurden rahmengenähte Schuhe für Herren und Damen angeboten. 1937 wurde die Produktion erneut vergrößert, die Fabrik zog in Wiener Neustadt. Gefertigt wurden dort Stiefel für das österreichische Militär. 1940 zog die Produktion in den 17. Wiener Bezirk um. Während des Krieges wurden dort Schuh neben Schuhen für den zivilen Bedarf auch Schuhe und Stiefel für Polizei und Militär gefertigt. 

Am Kriegsende wurde das Rohstoff- und Lederlager geplündert, die Maschinen blieben aber unversehrt. So konnte die Produktion bald wieder aufgenommen werden. Ab 1950 konzentrierte sich Ludwig Reiter auf noch hochwertigere rahmengenähte Schuhe, die unter der neuen Marke „Fox Medana“ vertrieben wurden. Diese Schuhe galten als „elegant, atmungsaktiv“ und „anatomisch und medizinisch richtig“. 1960 übernimmt Ludwig Reiter III. die Leitung der Unternehmens. Unter seiner Führung entwickelte sich Ludwig Reiter zu einem der angesehensten Schuhhersteller des Landes. In dieser Dekade wurden mehrere Geschäfte in Wien eröffnet, 1966 arbeiten rund 130 Mitarbeiter für das Unternehmen. 

Entgegen dem Trend, der in den 1960er bis 1970er Jahren dazu geführt hatte, dass die Schuhfabriken Deutschland und Österreich die Herstellung rahmengenähter Schuhe aufgegeben haben, hielt Ludwig Reiter an die Machart fest. Zu Beginn der 1980er erwies sich das als gute Entscheidung. Denn eine neue Generation begann sich für klassische Kleidung und rahmengenähte Schuhe zu interessieren. Nach zwei Jahrzehnten der Stil-Demontage entdeckten junge Männer die von der Generation ihrer Väter verschmähte Welt der geschneiderten Mode, der handgenähten Krawatten und des Manufakturschuhwerks. Einige wenige Herrenausstatter wurden zu Vorreitern, in ihren Schaufenstern lockten die Wunderwerke von Kiton und Chester Barrie, Barbour und Husky, Robert Friedman und Borrelli, William Lockie und Malo, Alden, Church’s und Ludwig Reiter.

In diese Zeit fällt meine erste Begegnung mit den Schuhen von Ludwig Reiter. Als ich Ende der 1980er Jahre zum Studium nach Hannover kam, gab es dort noch noch mehrere Herrenausstatter, darunter zwei, die zur Avantgarde zählen: Heinrich’s und H. B. Möller. Heinrich’s führte damals Church’s Shoes, H. B. Möller hatte sich auf Alden Shoes spezialisiert. Heinrich’s führte eine Zeitlang auch Ludwig Reiter und so sah ich diese Schuhe dort das erste Mal. Sie unterschieden sich komplett von den englischen Schuhen der gleichen Machart. Zuerst fiel der flachere Absatz ins Auge, dann die ganz andere Form der Zehenkappe. Von oben betrachtet war sie etwas abgerundeter, von der Seite aus gesehen, höher. Auch das Design des Katalogs unterschied sich von den Prospekten der Briten. Mit Schwarz-Weiß-Fotos wirkte der Prospekt modern und gediegen zugleich. Und dann diese Modellnamen: Esterhazy, Erzherzog Johann, Slatin Pascha. Im Ausverkauf konnte ich schließlich ein Paar erstehen: Einen weinroten Tasselloafer aus Scotchgrain-Leder mit Flügelkappe und Lochmusterverzierung. 

Ludwig Reiter II. hatte früh erkannt, dass die Zukunft in der Goodyear-Methode liegt. Jedenfalls für Hersteller, die mehr als nur die Stückzahlen einer händisch arbeitenden Werkstatt liefern wollen. Till Reiter hatte wiederum den Weitblick, rechtzeitig nach sinnvollen und Erfolg versprechenden Erweiterungen seiner Marke Ausschau zu halten. 1992 erwarb er die Arbeitsschuhfabrik C. Kitzmantel und damit auch neue Fertigungstechniken und Schuhtypen. Ein Kind dieser Übernahme ist z. B. der sehr erfolgreiche Winterstiefel „Maronibater“, inzwischen eines der bekanntesten Modelle des Hauses. Auch die Trainer des Hauses konnten erst nach Erwerb von C. Kitzmantel realisiert werden. 

1995 bewies Ludwig Reiter erneut ein gutes Gespür und brachte als erster leichte Sportschuhe in rahmengenähter Machart heraus und setzte damit einen neuen Trend. Im selben Jahr eröffnet Ludwig Reiher im Drei-Mäderl-Haus in Wien einen ersten Flagshipstore. Ihm folgen in den nächsten Jahren Ludwig-Reiter-Geschäfte in Österreich, Deutschland und der Schweiz. Aktuell gibt es sechs Ludwig-Reiter-Läden in Österreich, sieben in Deutschland und einen in der Schweiz. Überdies listet die Webseite von Ludwig Reiter zahlreiche Einzelhändler auf, bei denen die Schuhe der österreichischen Marke zu haben sind. Inklusive zwei Adressen in England, vier in Italien, sechs in Norwegen und einer in Manila auf den Philippinen. 

Wenn man nach dieser Liste geht, ist Deutschland der wichtigste Markt, jedenfalls nach Zahl der Handelspartner. Tatsächlich nimmt Ludwig Reiter hierzulande eine Alleinstellung ein, denn in Deutschland es gibt keine Marke für rahmengenähtes Schuhwerk mit eigener Herstellung im eigenen Land. Darüberhinaus profitiert Ludwig Reiter auf dem deutschen Markt davon, dass Österreich und Wien hohe Sympathiewerte bei der Zielgruppe genießen.

Till Reiter habe ich seit Ende der 1990er Jahre immer wieder getroffen, z. B. auf Messen oder bei der Feier des 150 jährigen Bestehens der Stoffhandlung Jungmann & Neffe in Wien im Jahr 2016. Bei den letzten beiden Ausgaben der Pitti Uomo vor der Pandemie führten wir etwas ausführlichere Gespräche, bei denen auch die Idee für den Besuch der Produktion am Firmensitz auf Gut Süßenbrunn entstand. 2008 hat Ludwig Reiter die denkmalsgeschützte Gutsanlage, die 1672 erstmals in Teilen auf einem Kupferstich abgebildet worden ist, erworben. 

Über zwei Jahre wurde sie behutsam renoviert und umgebaut. 2010 konnte der neue Betriebsstandort bezogen werden. Seitdem werden dort die rahmengenähten Schuhe gefertigt. Da ich noch nie die Produktion von Ludwig Reiter gesehen hatte, nahm ich die Einladung nach Süßenbrunn gern an. Im November 2023 war es dann soweit. Ich war in einem Hotel in der Wiener Innenstadt untergebracht und wurde dort morgens von einem Fahrer abgeholt. Die Fahrt führte an den Stadtrand von Wien. Gut Süßenbrunn liegt in einem kleinem Ort dörflichen Charakters. 

Die Gutsanlage ist weitläufiger und die Gebäude größer, als ich es aufgrund der Fotos auf der Webseite von Ludwig Reiter erwartet hatte. Auf dem Parkplatz erwarteten mich Till Reiter, seine Tochter Anna Reiter-Smith und ihr Mann, der Fotograf Jamie McGregor-Smith. Er hat es übernommen, meinen Besuch zu dokumentieren. Als wir die Produktion betraten, fielen mir drei Unterschiede zu den Schuhfabriken, die ich in Northampton besucht habe, auf: Es war heller, leiser und besser belüftet. Auch wenn Gut Süßenbrunn älter ist als die Fabriken in England, bei denen es sich meistens um Industriebauten aus dem späten 19. Jahrhundert handelt, die zu ihrer Zeit hochmodern waren, ist die Produktion bei Ludwig Reiter gemäß den heutigen Erfordernissen in der historische Anlage installiert worden. 

In Northampton waren im 19. Jahrhundert die Grundstücke vielleicht schon so teuer, dass man deshalb die Schuhfabriken in mehrstöckigen Gebäuden untergebracht hat. Mit dem Nachteil, dass die Schuhe während des Produktionsprozesses durch mehrere Stockwerke bewegt werden müssen. Was die Lautstärke betrifft: An den Maschinen kann es eigentlich nicht gelegen haben, denn bei Ludwig Reiter kommt die gleiche, teilweise aus dem 19. Jahrhundert stammende, Technik zum Einsatz. Und die moderneren Maschinen, z. B. die, mit deren Hilfe der Schaft über den Leisten gezogen wird, geben nur Zischgeräusche von sich. Vielleicht rührt die geringere Lautstärke daher, dass sich die Arbeitsplätze in Süßenbrunn auf eine größere Fläche verteilen, die Menschen sitzen nicht so eng nebeneinander. Vielleicht sprechen sie auch leiser.  Der Geruch muss mit den verwendeten Klebstoffen zusammenhängen und natürlich der Belüftungstechnik.

Der Ablauf der Schuhherstellung folgt bei Ludwig Reiter der Reihenfolge, die alle Macher rahmengenähter Schuhe einhalten. Zuerst wird der Schaft hergestellt. Anschließend wird dieser über den Leisten gezogen, nachdem an dessen Unterseite die Brandsohle fixiert worden ist. Danach wird der Schaft zusammen mit einem schmalen Lederstreifen, dem Rahmen, an der Unterseite der Brandsohle angenäht. Diese Naht ist beim fertigen Schuh unsichtbar, da sie dann von Laufsohle bedeckt ist. 

Bei der Naht, die am äußeren Rand der Lederslaufohle sichtbar ist, handelt es sich um jene, als Doppelnaht bezeichnete, mit der die Laufsohle an den Rahmen befestigt wird. Die unsichtbare Naht, die auch als Einstechnaht bezeichnet wird, ist das erste wesentliches Merkmal der rahmengenähten Machart. Die Einstechnaht verbindet Schaft und Boden dauerhaft und zugleich flexibel. Das zweite, ebenfalls sehr wichtige Merkmal, ist die Doppelnaht. Sie sorgt für eine stabile Verbindung von Sohle, Rahmen und Schaft, die Doppelnaht lässt sich aber trennen, wenn eine neue Laufsohle angebracht werden muss. 

Die beiden Merkmale, Einstechnaht und Doppelnaht machen den rahmengenähten Schuh besonders dauerhaft und gut reparabel. Die Doppelnaht ist übrigens nicht immer sichtbar. Manche Hersteller verstecken sie in der Ledersohle, indem sie den Stichkanal zusammendrücken und verleimen oder mit einer aufgeklebten Decksohle kaschieren. Bei Schuhen mit Kunststoffsohle ist sie ebenfalls oft nicht sichtbar. Dann geht die Doppelnaht durch eine dünne Zwischensohle aus Leder, auf die später die gewünschte Gummilaufsohle aufgeklebt wird.

Wenn man den grundsätzlichen Ablauf der Herstellung kennt, kann man die einzelnen Arbeitsgänge relativ leicht zuordnen können. Alles beginnt mit der Auswahl der Leders für den Zuschnitt der Schaftteile. Leder ist gegerbte Tierhaut. Als Naturprodukt ist es, anders als z. B. ein gewebter Stoff, ungleichmäßig dick und, trotz aller Vorsicht bei der Haltung und sorgfältiger Vorauswahl, mit Schönheitsfehlern behaftet. Ziel ist, dass die beiden Schuhe, die ein Paar bilden, möglichst gut zueinander passen. Die beiden Schuhe müssen wirklich ein Paar bilden, rechts und links dürfen auch nicht den Hauch von einer Farbschattierung voneinander abweichen. Ebensowenig dürfen sie sich aufgrund ungleicher Lederstärken unterschiedlich anfühlen. Das klingt wie eine Selbstverständlichkeit, ist aber das Ergebnis sorgfältiger Arbeit. Fehler im Leder werden mit einem Stift gut sichtbar markiert, anschließend werden die Umrisse der einzelnen Schaftteile auf die Hut projiziert und ausgeschnitten. Durch die Projektion müssen keine Schablonen mehr auf das Leder gelegt werden. 

Anschließend werden die Schaftteile mit Hilfe einer Nähmaschine zusammengesteppt. Dies machen seit Ende des 19. Jahrhunderts alle Schuhmacher so, auch traditionell arbeitende Maßschuhmacher. Vor dem Zusammennähen werden die Kanten ausgeschärft, also zum Rand hin abgeschliffen. Dadurch wird das Leder an den Rändern dünner, die überlappenden Schaftteile bilden keinen Wulst nach dem Zusammennähen. Nun werden die Kappen und das Futter hinzugefügt. Das erhöht die Stabilität und verhindert, dass sich die Kappen oder das Futter beim Zusammennähen verschieben. Die Schaftteile ruhen nach dem Zusammenkleben eine Weile, bis sie getrocknet sind. Beim Zusammensteppen wird genau darauf geachtet, dass die ausgeschärften Kanten aufeinander zu liegen kommen.

Mit Hilfe einer Maschine wird der Schaft über den Leisten gezogen. Dieser Arbeitsschritt, genannt das Zwicken, dauert bei Ludwig Reiter nur Sekunden. Handwerker ziehen den Schaft Stück für Stück mit einer Zange über den Leisten. Verschiedene Zwickapparate und Zwickmaschinen wurden schon im 19. Jahrhundert konstruiert, auch für den Einsatz im Handwerk. Einfache Zwickapparate erleichterten z. B. das Zwicken der Kappen. Das Zwicken der Hand hat für mich keinen erkennbaren Vorteil. Maßschuhmacher setzen Maschinen aus zwei Gründen nicht ein: Erstens lohnt sich die Investition wegen zu geringer Stückzahlen in aller Regel nicht. Zweitens müsste die Maschine aber für jeden Leisten neu eingestellt werden. Da geht das Zwicken von Hand am Ende schneller.

Mit der Goodyear-Nähmaschine werden mit einer Naht Schaft, Rahmen und Brandsohle verbunden. Seit dem späten 19. Jahrhundert kommt diese Maschine zum Einsatz. Von Hand nähen seitdem nur Handwerker noch die Schuhe. Das geht schnell vonstatten, erfordert von dem Arbeiter aber sehr viel Erfahrung und Gefühl. Bei Ludwig Reiter gibt es nur wenige Spezialisten, die diesen, für die Goodyear-Methode so wichtigen Arbeitsschritt, beherrschen. 

Unter dem Vorderfuß wird eine Korkplatte , auch Einballung genannt, unter der Brandsohle eingefügt. Die Innenkante des Rahmens „rahmt“ sie ein. In der Korkplatte bildet sich beim Tragen ein individueller Fußabdruck des Trägers. Die Korkschicht dämpft außerdem den Auftritt und sie nimmt Feuchtigkeit auf. Ein Fußbett ersetzt die Korkeinballung nicht, da sich in ihr lediglich ein Abdruck des Fußes bildet, die Korkeinballung stützt den Fuß also nicht. Das ist allerdings immer dann kein Problem, wenn kein Fehlstellungen vorliegen.

Nun wird noch lederne Laufsohle wird„aufgedoppelt“, also angenäht. Der Absatz aus mehreren Schichten aufgebaute Absatz wird mit Nägeln an der ledernen Laufsohle befestigt. Am äußeren Rand der Absatzes wird eine Gummiecke eingefügt, die den Auftritt dämpft und das Ausgleiten verhindert. Bis zur Erfindung des Gummis wurde der Absatz mit Messingecken oder Nägel verstärkt. Bei Schuhen mit Gummisohle wird nicht die Laufsohle aufgedoppelt, sondern eine dünne Zwischensohle, an die dann die Laufsohle aufgeklebt wird. Bei Schuhen mit Ledersohle werden die Laufsohle und der Absatz mit Lederfarbe nach Wunsch eingefärbt. Dies ist Teil der Abschlussarbeiten. Die Kanten von Sohle und Absatz wurden vorher mit Wachs versiegelt, um das Eindringen von Feuchtigkeit zu verhindern.

Abschließend bearbeitet ein Mitarbeiter die Schuhe mit Paste. Mit Hilfe eines Spitzknochens wird die Wachspaste in das Leder eingearbeitet, um höchsten Glanz zu erzeugen. Mit einem solchen Knochen kann der Schuhträger später auch Kratzer im Leder glätten, indem er Wachspaste in die schadhafte Stelle reibt. Neue Schuhe sollten dennoch beizeiten erneut mit Wachspaste gepflegt werden, um das Leder geschmeidig zu machen (bei Raulederschuhen ist es wichtig, dass sie vor dem ersten Tragen gründlich mit Spray imprägniert werden). Die fertigen Schuhe werden in Schuhbeutel aus Stoff gehüllt und dann in Kartons verpackt. Dann wandern sie in das große Lager, das direkt neben der Produktion liegt.

In der Manufaktur werden auch die Schuhe repariert, die von Kunden über eine Ludwig-Reiter-Filiale eingesandt worden sind. Für Till Reiter ist dies ein sehr wichtiger Service, den er auf jeden Fall den Kunden anbieten will. Es ist interessant, die vielen patinierten und zumeist gut gepflegten Schuhe älterer Jahrgänge auf den Arbeitstischen zu sehen. Bei einigen Schuhen ist erkennbar, dass der Besitzer sehr große Stücke auf sie halten muss, denn sie sind bis an die Grenze der Reparierbarkeit abgetragen. Till Reiter kommentiert das nicht, er merkt lediglich mit einem Schmunzeln an, dass in manchen Fällen ein neues Paar Schuhe zum empfehlen wäre. Dennoch wird stets versucht, Schuhe wieder herzurichten. Nicht zuletzt, weil die Kunden, die ihre Schuhe zur Reparatur in die Manufaktur geben, in aller Regel treue Käufer sind.

Nachdem wir die Produktion besichtigt hatten, versammelten wir uns in dem Fabrikverkaufsladen. Dort steht eine große Auswahl von Einzelpaaren für Herren und für Damen zur Auswahl, man kann aber auch, so wie in allen Ludwig-Reiter-Geschäften, eine so genannten Privatanfertigung bestellen. Wie das abläuft, werde ich im zweiten Teil des Berichts am Beispiel der Schuhe schildern, die ich geordert habe.

Fotografie:  Jamie McGregor-Smith