Kein Kleidungsstück, das wir für die Außenwelt sichtbar tragen, kommt uns so nah wie das Hemd. Und keines darf so sehr für sich beanspruchen, uns im wahren Wortsinn einzurahmen. Der Kragen ist sozusagen der Sockel, auf dem unser Gesicht wie eine Büste präsentiert wird. Deshalb gilt das perfekt auf die Persönlichkeit abgestimmte Maßhemd Kennern als Schlüssel zum perfekten Auftritt und Ausweis wahrer Eleganz. Es bei Gino Venturini in Wien machen zu lassen, ist ein besonderes Erlebnis. Denn zum Service gehört auch eine Anprobe.
Wien ist nicht so stark von Touristen überlaufen wie Salzburg, stark präsent sind sie aber dennoch. Die Einheimischen nehmen das gleichmütig hin. Immerhin bringen die Besucher Geld ins Land. Und bestimmte Cafés, Restaurants und Heurigenlokale meiden die Wiener einfach. Es gibt aber Touristen, die nicht wie Touristen aussehen, Reisende in Sachen Garderobe. Die trifft man z. B. bei Gino Venturini in der Spiegelgasse 9. Wie den Herrn aus Norddeutschland mit Marineblazer, Clubkrawatte und grauen Flanellhosen, an den Füßen rotbraune Maßschuhe aus Wien, Stammkunde seit Jahren. Meistens sucht er die Hemden zu Hause aus, Stoffproben bekommt er geschickt. Jetzt ist er geschäftlich in Wien und besucht natürlich auch seinen Hemdenmacher. Oder der Unternehmer aus der Schweiz, der eigens aus der Nähe von Appenzell angereist ist, um erstmals Maß nehmen zu lassen. Inhaber Nicolas Venturini führt den gerade vom Flughafen eingetroffenen Novizen in den hinteren Bereich des Ladens und hilft ihm aus der Anzugjacke.
Während der Neukunde auch noch die Weste aufknöpft, begrüßt Nicolas Venturini einen jungen Mann, der ein Hemd zur Reparatur zu bringt. Kragen und Manschetten sind durchgescheuert, bei Venturini kein Grund, das Hemd auszurangieren. Denn jedem Maßhemd wird genügend Stoff mitgegeben, um ihm in Form von neuem Kragen und neuen Manschetten ein zweites Leben bescheren zu können. Nun kann das Anamnesegespräch beginnen. Der medizinische Begriff passt gut, denn der Hemdenmacher muss erst ein paar Fakten erfragen, bevor er mit dem Messen beginnt. Wo und wann soll das Hemd getragen werden? Wie soll es sitzen? Welche Art von Stoff bevorzugen Sie? Das Ganze im verbindlichsten Plauderton. Beim Sprechen lässt Nicolas Venturini den Blick unauffällig über die Figur des im Hemd dastehenden Mannes gleiten. Wie ein Orthopäde den Gang des Patienten schon beim Hereinkommen analysiert, scannt er jede Besonderheit der Figur. Diese Routine kommt aus jahrzehntelanger Übung. Vierzig Jahre lang hat er mit seinem Vater in dem Geschäft gelebt, schon als Bub war er regelmäßig dort. Er zeigt auf einen kaum wahrnehmbaren Fleck an der Holzvertäfelung und erklärt, dass er vom pomadisierten Haarschopf des Mannes herrührt, der jahrelang hinter der Registrierkasse saß und manchmal seinen Kopf an die Wand gelehnt hat.
Maßhemdenanbieter lassen die Kunden in aller Regel so genannte Schlupfmuster probieren, also Hemden in den üblichen Kragenweiten. Man zieht sie über und der Hemdenmacher überprüft, wo es passt und wo nicht. Dabei geht es meistens vor allem um die Längen- und Umfangmaße, selten werden Unregelmäßigkeiten der Figur berücksichtigt. Venturini arbeitet lieber mit dem Maßband. Und mit seinen Augen. So wie es in ganz Europa bei Wäscheschneidern üblich war und heute kaum noch praktiziert wird. Die Maße werden dann in einen vollkommen individuellen Schnitt umgesetzt, auf dessen Basis ein Probierhemd aus einem neutralen Stoff genäht wird. Dieser Prototyp wird dann einer Anprobe unterzogen. Erst danach entsteht der endgültige Schnitt für den Kunden. Das minimiert das Risiko für Kunde und Hemdenschneider und garantiert eine Passform, die wirklich alle Besonderheiten und Vorlieben berücksichtigt. Von Körperscannern hält Nicolas Venturini nichts, denn die liefern nur eine Momentaufnahme. Das Hemd wird ja für einen Menschen gemacht, der sich bewegt. Da braucht es auch einen Menschen, der die Maße nimmt. Der Hemdenschneider, selbst korrekt aber unauffällig gekleidet, beobachtet ganz genau. Wie steht der Kunde? Wie geht er? Wie sitzt das Hemd, das er gerade trägt? Wo wirft es Falten. Und er fragt natürlich auch: Soll das Hemd weiter ausfallen oder eng? Sind Abnähern am Rücken gewünscht? Wo soll die Naht zwischen Ärmel und Rumpf platziert werden? Direkt auf dem Schulterknochen oder ein Stück weiter unten? Welche Gesamtlänge ist gewünscht? Manche Kunden haben sich über diese Dinge noch nie Gedanken gemacht. Nicolas Venturini kann Wünsche oft nur erahnen und formulieren.
Der Kunde aus der Schweiz hat sehr genaue Passformvorstellungen. Seine Anzüge kommen vom Schneider, seine Schuhe vom Maßschuhmacher. Man merkt, dass er sich vorher Gedanken gemacht hat. Solche Kunden erleichtern dem Hemdenschneider die Arbeit. Nicolas Venturini holt die Stoffmusterbücher. Dicke, in grünes Leder eingebundene Ordner, in denen alle Farben, Muster und Webarten zu finden sind. Blau, Rosa, Flieder, Grün, Gelb, Elfenbein, Weiß. Römerstreifen, Ginghamkaro, Fil-à-Fil, Fischgrat. Popeline, Zephir, Voile, Batist, Twill, Oxford, Seersucker, Flanell.
Baumwolle ist die die häufigste Faser, man kann aber auch Hemden aus Seide, Mischungen aus Kaschmir und Baumwolle oder aus Wolle und Kaschmir ordern. Diese Überfülle des Angebots wird manch einen einschüchtern, deshalb macht Nicolas Venturini konkrete Vorschläge. Er hat den Kunden nun schon eine Weile beobachten können, hat seine Fragen gestellt und kann deshalb zielsicher die Proben aus dem Ordner fischen. Der Mann aus der Schweiz geht damit vor die Tür, um die Farbe genau einschätzen zu können. Dann trifft er seine Wahl. Ein hellblauer Glencheck aus einer etwas dickeren Ware, rote und blaue Streifen auf Weiß, kleines rosa Karo auf Weiß und dreimal hellblauer Oxford. Die Mitarbeiterin notiert die Nummern der gewünschten Stoffe auf ihrem Tablet. Bevor diese Stoffe verarbeitet werden können, muss das Probierhemd genäht werden. Bis es fertig ist, werden ein paar Wochen vergehen. Wenn es bereit ist, bekommt der Schweizer eine Nachricht. Per E-Mail.
Der Mann, der jetzt hereinkommt, hat seine E-Mail schon erhalten, das Probierhemd liegt bereit. Er stammt aus Graz und hat vor zwei Monaten Maße nehmen lassen. Nun verbindet er einen geschäftlichen Termin in Wien mit einem Besuch bei dem Hemdenmacher. Eine Mitarbeiterin holt eine Prospekthülle aus einer Schublade, in der bestimmt zwei Dutzend zusammenfaltete Probierhemden auf ihren Einsatz warten. Der Grazer legt hinter dem Vorhang ab während der Chef das noch kragenlose Probierhemd auseinanderfaltet und dann in die Kabine reicht. Kurz darauf geht der Vorhang auf und ein zufrieden lächelnder Mann kommt heraus. Alle Anbieter von Maßkleidung hoffen genau auf dieses erste spontane Lächeln, ob sie nun Hemden, Anzüge oder Schuhe fertigen. Das Probierhemd scheint einen guten Eindruck gemacht zu haben. Das ist ein guter Auftakt. Erwartungsvoll betrachtet der Kunde sich im Spiegel. Eine Anprobe ist natürlich nicht nur Mittel zum Zweck, sie ist auch ein Ritual, das die meisten Kunden genießen.
Nicolas Venturini zupft das Hemd ein wenig zurecht und lässt die Augen wandern. Der Mann aus Graz hat rechts eine stark hängende Schulter. Dafür aber eine relativ flache Brust in Kombination mit leichtem Bauchansatz. Also viele Ansatzpunkte für Falten. Doch beim Probierhemd sind nur wenige zu sehen. Nico Venturini verschließt die Manschette mit einer Stecknadel, dann bittet er den Kunden, den rechten Arm, also den mit der Hängeschulter, anzuwinkeln und auf Brusthöhe anzuheben. „Spüren Sie einen Zug am Ellenbogen?“ Der Kunde nickt andeutungsweise, offensichtlich überrascht über so viel Sorge um seine Bequemlichkeit. Nicolas Venturini hält die geöffnete Hand der Mitarbeiterin hin. Wie einem Chirurgen im OP reicht sie ihm eine kleine Schere und er öffnet damit die Heftnähte, die den Ärmel mit dem Rumpf des Hemds verbinden. Anschließend heftet er den Ärmel sorgfältig neu ein und lässt den Kunden erneut den Arm anwinkeln. Nun ist es besser. Am Ellenbogen ist nichts mehr spürbar. Links entdeckt der Hemdenmacher ein Problem über dem Schulterknochen. Es sieht so aus, als wenn das Hemd dort ein wenig Druck ausüben würde. In der Tat, der Kunde wollte es gerade anmerken. Nicolas Venturini steckt eine Nadel zur Markierung an die Stelle und diktiert der Mitarbeiterin eine Schnittabänderung . Bei Venturini werden die Hemden zwar nach altväterlicher Sitte probiert, der Schnitt entsteht hingegen am Bildschirm. Was den Vorteil hat, dass alle Hemden identisch ausfallen.
Nun wird die Vorderseite des Hemds betrachtet. Es gilt, die Knöpfe optimal zu verteilen. Zunächst wird die Lage des ersten Knopfes unterhalb des Kragenknopfes ermittelt. Sie ist sehr wichtig, denn sie entscheidet darüber, wie weit sich das Hemd öffnet, wenn man es ohne Krawatte trägt. Bei Venturini empfiehlt man eine relativ hohe Position und diese Empfehlung wird häufig angenommen. Die Stellung der übrigen Knöpfe ergibt sich aus dem ersten, nun muss nur noch ihre Form ausgewählt werden. Der Kunde entscheidet sich für den flachen und leicht konkaven Venturini-Knopf mit vier Löchern. Seine Ränder sind abgerundet, was ihn zu einem kleinen Fingerschmeichler macht. Natürlich wird er aus echtem Perlmutt gefräst. Nachdem das geklärt ist, kommt das Hemd zu seinem Kragen. Der Kunde hatte bei der Bestellung einen Haifischkragen gewünscht. Nico Venturini holt ein paar Muster dieser Form aus dem Regal und empfiehlt die Form „Franziskus“. Das Kragenmuster wird dem Kunden um den Hals gelegt, zugeknöpft und hinten am Hemd festgesteckt. Der Kunde nickt zustimmend und der Name des gewünschten Kragens wird in das Tablet getippt. Bei Gino Venturini kann man unter über 20 verschiedenen Modellen wählen, Haifisch, Kent, Tab, Buttondown, Eton, Stehkragen – die üblichen Verdächtigen und noch einige mehr. Sie können mit fixierter oder loser Einlage verarbeitet werden. Ein fixierter Kragen ist glatter und behält länger seine Form, der unverklebte Kragen ist weicher, der Stoff wirft dafür aber Wellen und knittert. Was man bevorzugt, ist eine Frage des persönlichen Stils und der bevorzugten Optik. Der Herr aus Graz entscheidet sich für fixiert. Er liebt es akkurat. Nun darf er sich wieder umziehen. Anschließend lässt er sich noch einmal die Stoffe zeigen, die er beim Maßnehmen ausgesucht hatte. Es bleibt bei der Auswahl, die Stoffe wandern nun auf den Zuschneidetisch.
Die Preise für das Wiener Maßhemd aus der Spiegelgasse bleiben trotz des Aufwands für die Anprobe im Rahmen. Die Hemden kosten maximal 250 Euro, es sei denn, man besteht auf extrem kostspieligen Stoffen. In aller Regel bleiben die Preise aber unter dem genannten Limit. Denn Gino Venturini betreibt eine eigene Produktionsstätte in einem Dorf außerhalb von Wien und er kauft seine Stoffe in größeren Mengen ein. So hat er die totale Kontrolle über die Fertigung und er vermeidet die kostspielige Bestellung von kleinen Stofflängen, die von den Kunden in den Musterbüchern der Weber ausgewählt werden. Die Knopflöcher sind bei Venturini nicht von Hand genäht, das würde die Hemden übermäßig verteuern. Doch auch die Maschine liefert einen sauber gestichelten Knopflochrand. Die Verarbeitung des Venturini-Hemds ist insgesamt sehr gut. Streifen verlaufen perfekt von der Rückenpasse auf die Ärmel weiter, auch der Ärmelschlitz wird genau in das Muster eingearbeitet. Darauf achten heute nur noch wenige Hemdenhersteller. Nicolas Venturini kann darüber nur den Kopf schütteln. Doch er hält sich nicht lange bei den Mitbewerbern auf. Er kehrt lieber vor der eigenen Tür. Denn natürlich passieren auch bei ihm Fehler. Aber die werden in aller Regel entdeckt, bevor das Hemd an den Kunden ausgeliefert wird. Und dann geht das Hemd eben wieder zurück zu der Näherin.
Eine Mitarbeiterin macht dem Chef plötzlich aufgeregt Zeichen. Der Herr Professor möchte sein Frackhemd wiederhaben. Nicolas Venturini verschwindet kurz und kommt dann mit einem blendend weißen Frackhemd mit Weste zurück. Bevor er es an die Mitarbeiterin übergibt, weist er auf ein Detail hin: Die Weste und das Hemd sind aus einem Stück. Entwicklung des Hauses für einen Kunden. Auch bei den Smokinghemden kann Venturini mit einer Spezialität aufwarten. Kragen, Brust und Manschetten sind wie üblich weiß, der Rücken aber ist gestreift, farbig oder kariert. In Wien sind diese Hemden bei einigen Herren Kult. Der Schweizer Neukunde ist begeistert. Wenn sein Schnitt fertig ist, will er das unbedingt für sich ordern. Vielleicht in Pink. Passend zum Futter seines Smokings. Der Herr aus Graz schüttelt den Kopf. Er bevorzugt das klassische Smokinghemd. Und bestellt auch gleich eins. Jetzt ist sein Schnitt ja fertig, nun kann er jederzeit ordern. Ohne weitere Anproben. Sofern er seine Figur behält, ergänzt Nicolas Venturini augenzwinkernd, während er den Ordner mit den Smokinghemdenstoffen öffnet.
Fotografie von Martin Smolka.