Kleidung, Kunst und Philosophie. Interview mit Thomas Rusche

Was bei Thomas Rusche nur eine Facette ist, wäre normalerweise eine komplette Karriere, ein erfülltes Leben. Modeunternehmer, Geisteswissenschaftler, Ökonom, Hochschullehrer, engagierter Katholik, Familienvater und Autor zahlreicher Publikationen über Herrenmode und Kleidungskultur, z. B. des in Deutschland weit verbreiteten „Kleines Sør-Brevier der Kleidungskultur“. So ist es nicht verwunderlich, dass ein Interview mit Thomas Rusche stets Erkenntnisgewinn bringt. Lesen Sie heute Teil 1 des Gesprächs, das wir vor ein paar Wochen in seiner Berliner Wohnung geführt haben. Die Fotos hat Martin Smolka gemacht. 

Im Januar hat Van Laack die Filialen und den Online-Handel von Sør übernommen. Wie fühlen Sie sich ein gutes halbes Jahr danach? 

Ich freue mich, dass Sør durch die große Bereitschaft Christian von Daniels eine gute Zukunft hat. Ich freue mich, dass Sør als Marke erhalten bleibt und als unabhängige Organisation Fortbestand hat. Dass die Multilabel-Organisation in die Zukunft geführt wird. Dass es ein finanzkräftiges Unternehmen ist. Van Laack war ja immer schon gut aufgestellt. Es gibt also starke finanzielle Möglichkeiten, Sør in die Zukunft zu führen. Auch über die deutschen Grenzen hinaus. Was für einen international distribuierenden Lieferanten ohnehin in der ganzen genetischen Struktur näher liegt als für einen ehemaligen Pferd-und-Wagen-Händler aus dem Münsterland. Ich freue mich auch, dass in den ca. 25 Standorten, die weitergeführt werden, die Mitarbeiter übernommen wurden. Dass es zum anderen eine persönliche Verlustgeschichte ist, versteht man von selber. Was dann dieser Verlust für mich persönlich bedeutet, ist ja eine Frage der inneren Einstellung zu den Dingen, die einem passieren. Was sich daraus an Neuem ergibt, wird sich zeigen. 

In Psalm 37.5 heißt es, „Wenn Du Deine Wege dem Herrn befiehlst, wird Dein Vorhaben gelingen“.

Natürlich spielt bei mir das Gottvertrauen einen große Rolle. Wenn man nicht an Gott glaubt, dann sollte man zumindest Selbstvertrauen haben. Das Selbstvertrauen, dass alles irgendwie Sinn macht und eine neue Kraft und Dynamik entwickelt. Diese unglaublich hektischen Zeiten, diese dramatische Dynamik angesichts von Digitalisierung und Klimakatastrophe, die wird eben ganz viel Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit erfordern. Da ist das vielleicht eine notwendige Übung, die ich gerade mache, im Leben von ganzen vielem, was mir bisher vertraut und wertvoll und wichtig war, Abschied zu nehmen und mich eben ganz neu aufzustellen. Diese Notwendigkeit sich neu aufzustellen, die wird, angesichts des eben kurz skizzierten Wandels, in einem Maße zunehmen, wie es das in der Welt- und Menschheitsgeschichte bisher noch nie gegeben hat. Wir alle konnten früher einen Beruf erlernen und wussten, wir werden ihn bis zum Lebensende ausüben. Auf dem Weg vom Lehrling über den Gesellen bis zum Meister wurden wir immer besser und konnten dann die nächste Generation schulen. Durch diese Lebensrechnung wird uns jetzt ein Strich gemacht. Was Berufsbilder angeht, was Laufbahnen angeht. 

Was bedeutet das in Bezug auf die Kleidungskultur?

Soviel Dynamik gab es noch nie. Soviel Infragestellung bisheriger Konventionen und Usancen gab es noch nie. Dass wir beide hier ohne Krawatte sitzen spricht ja auch für sich. Und das wird weitergehen. Diese innere Bereitschaft, Wandel und Veränderung anzunehmen, ist uns Menschen, die wir uns nach Stabilität und Sicherheit sehnen, nicht so einfach gegeben. Da haben wir alle viel zu lernen und da kann natürlich ein Glaube an Gott, an einen gütigen Schöpfer, der uns durchs Leben begleitet, der uns nicht alleine lässt, der uns immer wieder auf die grünen Auen führt, der kann natürlich unglaublich helfen. 

Sehen Sie Kleidungskultur jetzt anders, da Sie als Unternehmer keine Kleidung mehr verkaufen müssen? Haben Sie überhaupt noch in dem Maße das Interesse daran? Oder ist das auch eine Befreiung?

Die Befreiung ist im Wesentlichen eine vom täglichen Umsatzdruck. Als erstes morgens, manchmal schon vor dem Morgengebet, in die Umsatzzahlen des Vortages zu gucken und schauen, wie gehen wir mit 36-Grad-Wetter um. Da ist etwas von mir abgefallen an Druck. An Umsatzdruck, an Ertragsdruck. Zum zweiten ist mein Konzept der Kleidungskultur ja ein sehr dynamisches. Ich spreche von der Dreistelligkeit der Kleidungskultur und die beginnt bei mir selber. Wer bin, wie sehe ich mich, wie entwickele ich mich, wie fühle ich mich? Natürlich verändert sich der Mensch im Laufe der Zeit. Das Leben verändert sich. Die inneren Stimmungen und Haltungen entwickeln sich, schwanken. In dem Sinne gehört es zu meinem Konzept der Kleidungskultur, dass all diese Dynamiken des Menschen, dass sie einfließen. Natürlich kleide ich mich heute anders als vor 10, 20 Jahren. Aber der Cutaway ist immer noch ein Cutaway. 

Tragen Sie ihn noch?

Selbstverständlich. Aber wann und wie ich ihn trage, ist heute anders als vor 20, 30 Jahren. Das bringt mich zu dem zweiten, dem objektiven Anlass. Bei allem Wandel gibt es immer noch objektive Anlässe, wie Hochzeit oder Taufe. Wie ein Interview, das wir miteinander führen. Ein Geschäftsgespräch. Ein Restaurantbesuch. Aber wie ich sie in Form der Kleidung honoriere, bespiele, das ist einer dynamischen Entwicklung unterworfen. Und die dritte Dimension ist der andere, sind die anderen. Die angesichts des objektiven Anlasses etwas von mir erwarten. Als Gast erwarten Sie zu Recht, dass ich Ihnen wenigstens ein Glas Wasser anbiete. Als Kleidungskulturexperte erwarten Sie von mir, dass ich Sie nicht halbnackt empfange. Und vielleicht hätten Sie vor 10 Jahren auch noch erwartet, dass ich eine Krawatte trage und hätten selber auch eine an. Diese Dreidimensionalität, das macht Kleidungskultur aus. Ich, subjektiv, der ich mich verändere, angesichts des objektiven Anlasses im Verhältnis zu den anderen, die auch diesen Anlass mit mir wahrnehmen und eine gewisse Sicht auf mich haben und damit Erwartungshaltungen verbinden, weil sie mich vielleicht das letzte Mal vor 10 Jahren im blauen Anzug erlebt haben. Und damit umzugehen, das wandelt sich im Laufe der Zeit. Und wir beide ja wissen ja auch, als wir vor Jahrzehnten begonnen haben unsere Bücher zu schreiben was damals schon nicht mehr da war. Der Gehrock war zum Beispiel nicht mehr da. Der vor 100 Jahren noch durch Berlin stolziert ist. Kleidung erlebt eben auch einen Wandel. 

Wird es die Krawatte morgen noch geben?

Das wird sich zeigen. Es ist absehbar, dass sie von immer weniger Menschen erwartet und getragen wird. Und zu viel selteneren Anlässen als vor 50 Jahren, als man mit Hut – Hut ist auch ein solches Beispiel – und Krawatte und Sportjackett ins Fußballstadion ging. Es ist sehr wichtig, glaube ich, diese Dynamik auch zuzulassen. Gerade dann, wenn man, wie wir beide versuchen, Regeln des guten Geschmacks und der Kleidungskultur zu formulieren. Der Lehrling, der hat gar keine Ahnung, der braucht den Roetzel, damit er weiß, wo es langgeht. Dann wird er zum Gesellen und hat wirklich das Einmaleins verstanden. Was wann wie zu kombinieren ist. Was man wann wie, wie trägt. Diese Grammatik ist gut und wichtig zu erlernen. Aber so wie der Geselle, wenn er nun frisch von der Prüfung kommt, alles ein bisschen sehr genau nimmt, ist dann der Meister derjenige, der sich von den starren Regeln befreit und sie variiert. Sprezzatura, ein Begriff den wir beide schätzen, steht dafür mit einer sehr persönlichen Note Kleidungskultur voranzutreiben. Deshalb ist die einzelne Regel weniger wichtig als die Konzeption zu verstehen, Kleidung ist wichtig für mich. Und für den anderen. Bevor ich den Mund aufmache spreche ich mit meiner Kleidung zu dem anderen. Das alles immer angesichts eines objektiven Anlasses. Deshalb diese drei pragmatischen, prinzipiellen Dimensionen der Kleidungskultur und ein sich immer fortentwickelndes Normengebäude, das man nicht zu starr interpretieren darf. Deshalb ist der Begriff Gebäude sogar problematisch, weil nichts fest zementiert ist. Es ist ein kulturelles Normenset, das sich im Laufe der Zeit dynamisch weiterentwickelt. Und ein jeder von uns kann dazu mit seinem täglichen Outfit einen ganz persönlichen Beitrag leisten. In diesem Sinne sind wir beide und alle, die bei der Kleidung ihr Bestes geben, Kulturschaffende.