Der Maßhemdenmacher Siniscalchi in Mailand ist eine von etwa einem halben Dutzend Adressen, von denen ich Ende der 1990er erstmals in dem Buch „Style And The Man“ von Alan Flusser gelesen habe. Dennoch habe ich diese Hemdenwerkstatt erst vor etwa zwei Jahren das erste Mal betreten. Hemden von Siniscalchi hatte ich vorher schon gesehen und auch Alessandro Siniscalchi und seiner Frau Cinzia war ich schon mehrmals begegnet. Als ich 2018 in Mailand zu tun hatte, fand ich Zeit, ihrer Einladung zu folgen. Obwohl damals unklar war, wann ich wieder nach Mailand kommen würde, nahm Alessandro für alle Fälle meine Maße und ich suchte einen Stoff aus. Am 18. Und 19. September 2020 konnte ich mich dann endlich für die Anprobe anmelden, da ich wegen des „Trofeo Arbiter“ in Mailand war. Der fand im Luxushotel Principe di Savoia statt, also 10 Gehminuten vom Atelier entfernt.
Wer sich von seinem Smartphone zu Siniscalchi führen lässt, steht vor einem Hoftor, wenn er das Ziel erreicht hat. Ein Schaufenster gibt es nicht. Nur ein großes Schild aus Messing mit der Hausnummer und darunter vielen Klingelknöpfen und einer Gegensprechanlage. Durch eine dunkle Einfahrt geht über einen Innenhof zum Hinterhaus. Rechts endlich Schaufenster, durch die man in das Innere des Geschäfts sehen kann. Es besteht aus einem Empfangsraum mit Wohnzimmercharakter und einer Kabine mit Vorhang für die Anproben, ansonsten aus der Werkstatt, Lager und den üblichen Zusatzräumen. Überall stehen und liegen Hemdenstoffe, als Ballen, auf Rollen oder in lederne Bücher eingebunden. Außerdem einige Muster von Hemden, Pyjamas und Hemdjacken auf Büsten, an den Wänden gerahmte Fotos von Kunden.
Alessandro Siniscalchi hat das Handwerk bei seinem Vater Vittorio erlernt, der 1948 mit der Hemdenmacherei begonnen hatte. Zunächst hat Vittorio nur für Bekannte und Freunde gearbeitet, später hat er ein Atelier in der Wohnung der Familie in der Via Monte Napoleone eröffnet. Damals war es üblich, dass bei allen Hemden die Brustpartie aus einer doppelten Lage Stoff gearbeitet war, erzählt Alessandro. Heute macht man das nur noch bei Smokinghemden aus Voile, wenn die Herren dunkles Brusthaar haben und kein Unterhemden tragen möchten. Damals sollte die doppelte Stofflage die Brust warmhalten. Und es gab Winter- und Sommerhemden, so wie man auch die Anzüge passend zur Jahreszeit schneidern ließ. Während Alessandro erzählt, ziehe ich Sakko und Hemd aus und lasse mir von Alessandro das Probierhemd in die Kabine reichen.
Alessandro schneidet die Probierhemden aus einem weißen Stoff zu, den er speziell für diesen Zweck weben lässt. Kragen und Manschetten sind aus Papier zugeschnitten, Knöpfe gibt es noch nicht, das Hemd wird mit Stecknadeln geschlossen. Alessandro freut sich, dass meine Figur sich nicht verändert hat, das Hemd passt im Großen und Ganzen. Im Detail muss er aber einiges neu stecken. An der Schulter mit Nadeln, unter den Achseln und an der Brust knifft er aber nur vorsichtig den Stoff mit den Nägel von Daumen und Zeigefingern. Der Kunde soll auf keinen Fall aus Versehen durch eine Nadel gestochen werden. Bei den Änderungen geht es überwiegend darum, dass er Raum für die Schulterknochen machen muss. Hemdenmacher können nicht mit Einlagen oder Polstern arbeiten, das Hemd liegt direkt auf dem Körper auf.
Zuletzt wirft Alessandro einen prüfenden Blick auf die Manschette und die Ärmel. Testweise steckt er den Zeigefinger unter die Hemdenmanschette. Wenn er gut hineinpasst, könnte sie noch ein wenig enger sein. Bei herabhängendem Arm ist der Ärmel lang genug, wenn ich ihn aber anhebe und anwinkele, spannt er über dem Ellenbogen. Deshalb gibt Alessandro ein wenig mehr Länge an der Rückseite des Ärmels dazu. Dadurch spannt das Hemd nicht am Ellenbogen und es rutscht auch nicht zu hoch in den Sakkoärmel hinein. Dadurch, dass der Ärmel nur an der Rückseite mehr Länge bekommen hat, staucht sich der Stoff nicht an der Vorderseite über der Manschette auf.
Nach der Anprobe führt Alessandro mich in der Werkstatt herum. Eine Mitarbeiterin umsäumt gerade die Knopflöcher von Hand, eine andere stickt mit Nadel und Faden Initialen in ein Hemd. Es gibt eine große Auswahl an Schriftmustern und Beispiele verschiedener Kronen und Wappen, Adelige aller Rangstufen können sich ihre Hemden oder Pyjamas mit den passenden Standesabzeichen verzieren lassen. Bei mir bleibt es bei einem schlichten B. R. in Blockbuchstaben, Ton in Ton mit dem Stoff des Hemds. Ich hatte schon beim ersten Besuch einen dunkelblauen Streifen auf weißem Fond ausgewählt, das „Mailänder Hemd“; wie Alessandro sagt. Ihn bekomme den Streifen am nächsten Tag, bei der zweiten Anprobe, zu sehen. Das Hemd ist zusammengeheftet wie ein Anzug bei der ersten Anprobe.
Alessandro schließt das Hemd mit Nadeln knöpft den Kragen zu. Die Weite ist perfekt, die Einlage sehr angenehm am Hals. Er ist aus weißem Stoff gearbeitet und wieder nur zur Probe angeheftet. Alessandro verkleinert den Kragen minimal an der Spitze, da er sonst an dieser Stelle aufsetzen und drücken würde. Alessandro markiert die Änderung mit dem Bleistift. Die Passform an der Schulter ist jetzt sehr gut. Auch an der Brust und am Rücken fällt der Stoff sehr gut. Dennoch muss Alessandro vor dem Armloch wieder ein bisschen Stoff abstecken. Er erklärt, dass bei einem Streifenstoff Unebenheiten noch stärker ins Auge fallen und scherzt, dass er vielleicht besser zu einer einfarbigen Qualität hätte raten sollen. Die zweite Anprobe dauert vielleicht fünf Minuten, ich selbst sage dabei nichts. Alessandro hilft mir aus dem Hemd und zeigt mir dann auf dem Zuschneidetisch, wie er die Schnittmuster aus Packpapier erneute abändert. Anschließend wird er vom Stoff an einigen Stellen noch etwas wegschneiden, danach wird das Hemd fertiggestellt.
Ich bekomme das Hemd zwei Wochen später per Post zugeschickt und es passt sehr gut. Doch fertig ist es nicht. Wenn ich drei bis viermal getragen habe, muss ich es leider wieder abgeben. Aber nur vorübergehend. Alessandro bittet Neukunden mit dem ersten Hemd zurück in sein Atelier, damit er sehen kann, wie es sitzt und sich nach den ersten Einsätzen gemacht hat. Alessandro kann am Hemd ablesen, wie gut es sitzt und wo der Schnitt optimiert werden muss. Insofern gibt es bei Siniscalchi für Erstkunden mindestens zwei Anproben, eine aus dem neutralen Stoff und ein aus der finalen Ware. Es gibt aber keine Obergrenze bei der Zahl der Proben, Alessandro probiert so lange, bis das Hemd perfekt ist. Und was das bedeutet das? „Es ist ihr Hemd“, erklärt er. „Ich kann Ihnen nicht sagen, wie das Hemd sein soll. Sie müssen es mir sagen.“
Alessandro zeigt mir am Ende noch das Buch „The Italian Gentleman“ von Hugo Jacomet. Das „Maison Siniscalchi“ wird darin ausführlich portraitiert. Dennoch ist Siniscalchi außerhalb von Kennerkreisen nicht allzu bekannt. Was vermutlich daran liegt, dass die Kunden diskret über die Herkunft ihrer Hemden schweigen. Und eine Bitte hat Alessandro noch: „Schreib nichts über Preise. Darüber spreche ich lieber mit den Kunden wenn sie hier sind.“ Eine Mindestbestellmenge gibt es nicht. Alessandro erklärt, dass er lieber 20 verschiedenen Neukunden ein Hemd macht als einem neuen Kunden zwanzig Hemden. Wer seine Hemden probiert, bestellt nämlich meistens nach.
Die Geschichte meines Hemds von Siniscalchi ist an diesem Punkt noch nicht zu Ende erzählt. Nach meinem nächsten Besuch in Mailand bei Siniscalchi folgt die Fortsetzung.
Fotografie von Alessandro Tassone.