Maßhemden Reiser Manufaktur

Der Chef kommt mit dem Skateboard zum Termin. Das ist kein Versuch, sich als hip zu profilieren. Martin Weigand trägt es unter dem Arm, weil er gleich einen großen Blumentopf bewegen will und dafür will er das Skateboard seines Sohns als Rollbrett zweckentfremden. Es ist ein sonniger Morgen, die Hemdenmacherei hat gerade ihre Tür geöffnet. Die kleine Ladenfront lässt nicht vermuten, dass sich dahinter eine komplette Hemdenmanufaktur verbirgt mit Showroom, Werkstatt und Stofflager. 2004 hat Martin Weigand das 1953 gegründete Hemdenatelier übernommen und damit einen kultur- und modehistorischen Schatz in Form von Musterbüchern und zahllosen Hemdenschnittmustern, darunter denen zahlreicher wichtiger Akteure und Persönlichkeiten der bundesrepublikanischen Geschichte. Heute ist Reiser eines der wenigen deutschen Hemdenateliers, in denen ausschließlich und vollständig im Haus zugeschnitten und genäht wird und dabei auch noch das größte.

„Als ich Reiser übernommen habe, ist hinsichtlich der Qualität alles beim Alten geblieben. Es wird noch genauso gearbeitet, wie in den 1950er Jahren, also ganz viel von der Hand, nicht nur beim Schnittmuster und dem Zuschnitt. Die einzige Neuerung war das Probierhemd“, erklärt Martin Weigand. „Anfang der 2000er Jahren trugen unsere Kunden die Hemden sehr weit, da brauchte man keine Anprobe. Heute bevorzugen die meisten einen körpernahen Schnitt, da ist die Anprobe wichtig.“ Wer bei Reiser Vollmaß bestellt, also das handwerklich gearbeitete Hemd aus der Münchener Werkstatt, erlebt den traditionellen Ablauf wie bei den berühmten Adressen in Paris, Wien oder Mailand. Zuerst erklärt der Kunde seine Wünsche und Ideen, dann wird der Stoff ausgesucht. Die Auswahl ist umfassend. Was nicht am Lager ist, wird kurzfristig bestellt. Theoretisch können Kunden eigenen Stoff mitbringen, das kommt aber selten vor. Anschließend werden die Maß genommen und alle Besonderheiten der Figur notiert. „Ein Maßhemd soll perfekt ausbalanciert sein, der Stoff muss glatt fallen und anliegen. Das ist vor allem bei schlanken, sportlichen Figuren gar nicht so leicht“, erklärt Martin Weigand. Wenn der Kunde wieder gegangen ist, wird der Schnitt auf Papier gezeichnet, ausgeschnitten und auf den Stoff übertragen. „Die Zuschneiderin achtet auf den perfekten Verlauf des Musters über die Nähte, zum Beispiel zwischen Schulterpasse und Ämel. Die Kragen werden meistens unfixiert verarbeitet. Wenn ein Kunde es will, bekommt er einen fixierten Kragen, also mit verklebter Einlage. Die Knopflöcher werden mit der Maschine genäht, die Knöpfe werden aber von Hand angenäht. Gegen Aufpreis umsäumt die Näherin, die sonst die Initialen von Hand stickt, die Knopflöcher händisch. 

Die meisten Kunden bestellen eher konventionelle Farben und Muster, also Hellblau oder Weiß mit dunkelblauen Streifen. Ab und zu haben Kunden aber exzentrische Wünsche. Als Beispiel holt Martin Weigand einen Papierordner mit der Bestellhistorie eines Stammkunden, der für ein Hemd mehrere, zumeist stark dessinierte Stoffe, zusammensetzt. „Das ist in der Produktion natürlich aufwändiger. Aber eher die Ausnahme. Für manche Kunden haben wir unten auch einen eigenen Karton stehen mit besonderen Knöpfen und Kragenformen. Bei uns ist eben alles möglich.“ Beim Rundgang durch die Manufaktur sehen wir die Werkstatt im Souterrain, in der mehrere Näherinnen bei der Arbeit sind. „Alle arbeiten hier, Heimarbeiterinnen beschäftigen wir nur ausnahmsweise.“ In einem sind die Papierschnittmuster abgelegt. Martin Weigand schüttet den Inhalt eines Ordners auf den Tisch. Zum Vorschein kommen Schablonen aus Papier für alle Einzelteile des Hemds. Man sieht, dass bei den Schablonen für die Vorderteile an den Seiten Papier angestückelt wurde. „Wenn der Kunde zunimmt, kleben wir was an. Wenn er abnimmt, schneiden wir weg.“ Gibt es Kunden, die über Jahrzehnte ihre Figur halten? Martin Weigand schmunzelt: „Bei manchen waren die alten Hemden noch sehr weit geschnitten. In die sind die Kunden über die Jahrzehnte hineingewachsen. So passen sie halt immer noch.“

Wenn Kragen und Manschetten abgewetzt sind, lassen viele Kunden die Maßhemden reparieren. Reiser liefert den Kunden bei neuen Hemden nur auf Wunsch direkt den Ersatzstoff mit. Die meisten ziehen es vor, wenn der Stoff in der Manufaktur lagert. Dafür gibt es einen eigenen Raum, in dem nach, nach Farben sortiert, zahllose Stoffreste sauber  in Regalen aufgestapelt sind. „Hier sucht die Näherin den passenden Stoff heraus.“ Manche Kunden ordern aber lieber gleich neue Hemden. Oftmals per Telefon. „Die sagen dann einfach 10 weiße Hemden, drei blaue mit Streifen und vier mit Karos. Die Muster kann ich aussuchen“. Was für den Kunden bequem ist, deutet Martin Weigand auch als Vertrauensbeweis: „Wir kennen die Kunden so gut, dass wir selten danebengreifen.“