Wien ist eine Maßschuhstadt. Es gibt mehrere Anbieter und es gibt vor allem sehr viele Männer, die Maßschuhe tragen. Und nicht nur in den Kreisen, in denen man sie in Deutschland aufgrund der Preise für das handgemachte Schuhwerk vermutet. Wien ist bei diesem Thema breit aufgestellt. Es gibt Studenten, die von ihrem schmalen Budget genug abzweigen konnten, um einen kleinen Handwerker in einem der günstigeren Bezirke beauftragen zu können. In Wien gibt es tatsächlich kleine Betriebe, die schon ab ca. 600 Euro Maßschuhe anbieten. Meistens holzgenagelt und eventuell von einem Heimarbeiter in der Slowakei oder Tschechien gemacht, manchmal aber auch komplett in Wien. So gibt es z. B. einen Maßschuhmacher, der in einem alten Weinbauernhof seine Werkstatt betreibt und die Schuhe von Schuhmachern im Ruhestand bauen lässt, die so ihre Rente ein wenig aufbessern. Und dann sind da auch noch die Kunden der berühmten Adressen aus dem 1. Bezirk, genannt die Innere Stadt. Wenn man sich Freitag früh am Graben aufstellt, der feinen, literarisch vielfach verewigten Einkaufsstraße zwischen Stephansplatz und Kohlmarkt, dann laufen unter Garantie im Minutentakt Herren an einem vorbei, deren Schuhe erkennbar aus einer der angesehenen Werkstätten stammen. Eine davon ist Materna, nur wenige Gehminuten von der Staatsoper entfernt in der Mahlerstr. 5 gelegen.
Materna ist in Wien eine Institution, ähnlich wie der Stoffhändler Jungmann & Neffe am Albertinaplatz oder die Parfümerie J. B. Filz am Graben. In manchen Familien wird seit Generationen in solchen und einigen anderen Läden gekauft, einige davon waren bis vor knapp 100 Jahren sogar Hoflieferanten. Materna ist im Vergleich zu den anderen beiden Beispielen noch vergleichsweise jung, gegründet wurde die Maßschuhmacherei 1907, also nur 12 Jahre vor dem Ende der Monarchie, nicht im 19. Jahrhundert wie Jungmann & Neffe (1836) oder die J. B. Filz (1809). Das Interieur des Verkaufsraums ist nicht anders als altmodisch zu nennen mit seinen Holzvitrinen und der Polsterung der Sitzgelegenheiten. Doch das ist unwichtig. Hier geht es um Schuhe. Perfekt passende Schuhe. Der derzeitige Inhaber ist Martin Dellantonio, der das Geschäft 2008 von Georg Materna übernommen hat, der es wiederum von seinem Vater hatte. Der erste Materna stammte aus Brno, zu Deutsch Brünn. Von dort war er nach Wien gekommen, wirkte eine Zeit lang in Karlsbad als Schuhmacher, floh laut Firmenhistorie dann aber nach dem Krieg „vor den Kommunisten“ nach Wien. Sein Sohn arbeitete in Wien als Stückmeister für den legendären Béla Nagy, einen in Wien damals hochangesehen Meister, der für zahlreiche Persönlichkeiten der Stadt die Schuhe gemacht hat. Stückmeister waren Schuhmacher, die kein eigenes Ladengeschäft betrieben haben und anderen Geschäften zuarbeiteten. In London wird bis heute noch nach diesem System produziert, alle großen „bespoke shoemakers“ geben Arbeit an Externe. 1973 übernahm Materna die Werkstatt von Béla Nagy, der keinen Nachfolger gefunden hatte. Die Kundenkartei ging zusammen mit allen Maßleisten und dem Werkzeug an den neuen Inhaber über, auch die Leisten von Dr. Bruno Kreisky, dem damaligen Bundeskanzler. Noch heute, 29 Jahre nach seinem Tod, werden sie bei Materna aufbewahrt. Über lebende Kunden wird selbstverständlich nicht gesprochen, die Namen auf den Leisten dürfen deshalb auch nicht fotografiert werden.
Martin Dellantonio bleibt für Laufkundschaft, die durch das Schaufenster angelockt hereinkommt, meistens unsichtbar. Ungern reißt er sich von seiner Arbeit los. Besucher werden vorn von einem der Mitarbeiter empfangen. Viele Besucher wollen sich nur umsehen. Andere kaufen eine Dose Wachspaste oder machen ein Selfie vor einer der Vitrinen. Jetzt führt er aber selbst durch die Werkstatt und das Leistenlager mit den hohen Regalen aus rohem Holz, seine Schürze gemahnt die Besucher dabei in jedem Moment daran, dass der Chef des Hauses keine Zeit zu verlieren hat. Er hat bei Georg Materna gelernt und gearbeitet, wenn er einen Musterschuh in die Hand nimmt und ihn liebevoll in den Händen dreht, dann ist Handwerkerstolz zu spüren. Was die Kunden bei Materna suchen, ist in den Vitrinen im Verkaufsraum zu sehen. Dort sind Musterschuhe ausgestellt, die z. T. noch aus der Hand von Béla Nagy stammen und eventuell aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Die Auswahl ist umfangreich und stilistisch vielfältig. Viele Derbys – in konventionellem Schwarz, aus braunem Alligator oder hellbraunem Rauleder. Aus Geflecht oder mit Lochung, als Golfschuh mit Flügelkappe. Knöpfstiefeletten und den halbhohen sportlichen Erzherzog Johann. Und natürlich den für Wien so typischen Norweger in verschiedenen Leder- und Sohlenvarianten. Außerdem Bergschuhe mit auffälliger Zwienaht, Stiefel mit Filzschaft und zierliche Abendschuhe. Dazwischen Schlupfschuhe, Oxfords und erstaunlich viele Sandalen. Die etwas schlankeren, italienischen anmutenden Modelle stammen von Martin Dellantonio. Bereitwillig öffnet er die Glastüren und holt die Schuhe heraus. Stilistisch würden die Modelle aus der Vorkriegszeit nicht auffallen und einige Schuhe aus dieser Zeit werden immer noch getragen, manchmal vom Enkel des Käufers. Maßschuhe sind keine Wegwerfprodukte, nicht nur deshalb halten sie länger. Da sie von Hand rahmengenäht werden, sind sie problemlos zu reparieren. Eine abgenutzte Laufsohle kann entfernt werden, indem der Schuhmacher die Sohlennaht auftrennt. Die neue Sohle wird dann von Hand aufgedoppelt, dabei wird die Nadel durch die vorhandenen Löcher im Rahmen geführt. Mit der Maschine geht das nicht, wenn ein Stich danebenginge, würde das den Rahmen beschädigen.
Es ist nicht leicht, den Überblick über die Räumlichkeiten zu behalten, wenn man das erste Mal dort ist. Alles wirkt verwinkelt und dunkel, die Werkstatt erstreckt sich über mehrere Räume. In einem Nebengelass perforiert eine Arbeiterin mit Hammer und Locheisen ein schwarzes Schaftleder. Sie macht diese Arbeit seit Jahrzehnten, wirkt aber nicht im geringsten gelangweilt. Schlag für Schlag entsteht so aus vielen kleinen Löchern das „Brogueing“, das charakteristische Lochmuster auf den Flügelkappen. In einem großen Raum, dessen Fenster zum Innenhof gehen, zieht ein Schuhmacher gerade mit einer Zange einen Schaft über den Leisten. Dieser kraftzehrende Arbeitsvorgang wird in den Manufakturen durch Maschinen erleichtert und beschleunigt Beim händischen Zwicken, so die Bezeichnung dieser Prozedur, wird der Schaft dagegen Stück strammgezogen und dann mit einem Nägelchen am Leisten fixiert. Diese Nägelchen werden später beim Zusammennähen von Schaft und Rahmen am Einstechdamm, dem „Einstechen“, einzeln wieder herausgezogen. Die Schäfte werden bei Materna alle im Hause genäht. Das ist nicht bei allen Maßschuhmachern so, kleinere Betriebe lassen ihre Schäfte häufig bei Lohnbetrieben nähen. Seit dem 19. Jahrhundert helfen Nähmaschinen in der Schaftmacherei, sonst ist aber alles nach wie vor Handarbeit bei Materna. Auch die Sohlen werden von Hand „aufgedoppelt“, dabei näht der Schuhmacher mit einem Faden, an dessen beiden Enden eine Nadel befestigt ist. Nach jedem Stich wird der Faden verknotet, dadurch hält er die Sohle selbst dann noch fest, wenn die Naht durch Abnutzung beschädigt ist.
Das Leder lagert in einem kleinen Zimmer neben dem vorderen Verkaufsraum. Dellantonio holt verschiedene Qualitäten aus dem Regal und breitet sie auf dem Tisch aus. Boxcalf, Rindsleder, mal auf der Narbenseite als Glattleder zugerichtet, mal fleischseitig als Rauleder, außerdem auch gekörnte Varianten, z. B. Scotchgrain in verschiedenen Farben. Die Auswahl an Brauntönen ist beeindruckend und man fühlt sich ein wenig an die Auslagen einer Konditorei oder Zuckerbäckerei erinnert. Vom Schwarzbraun bitterer Schokolade über das Honigbraun von Toffee reicht das Angebot bis hin zu hellem Nougat. Auch Nusstöne sind zu finden. Dazu verschiedene Exotenleder, überwiegend stammen sie von Echsen, doch auch Straußenhäute sind im Angebot, Känguru, Stachelrochen und das unverwüstliche Elefantenleder. Natürlich alles aus seriösen, zertifizierten Quellen. Für die Ledersohlen wird Rindsleder verwendet, traditionell in Eichenlohe grubengerbt. Außerdem sind verschieden Kunststoffsohlen im Sortiment vom weichen Naturkautschuk über Vibram bis hin zu Varianten mit verschiedenen Profilen für alle denkbaren Einsatzbereiche. Selbst das typische Sohlenmaterial für Bootsschuhe ist am Lager, erst kürzlich hat sich ein Kunde decktaugliche Schuhe nach Maß anfertigen lassen.
Materna gehört nicht zu den teuersten Wiener Schuhmachern und auch im Vergleich zu manchem Newcomer in Deutschland sind seine Preise nicht astronomisch. Martin Dellantonio fertigt die Maßschuhe ohne Probierschuh, was ein wenig gegen den aktuellen Trend geht, in Deutschland arbeitet auch Kay Gundlack so, in London ist es ohnehin üblich. Dellantonio steht auf dem Standpunkt, dass der Probierschuh nicht identisch ist mit dem finalen Produkt, er suggeriert Sicherheit, wo es sie nicht wirklich gibt. Vieles spricht für den Probierschuh, tatsächlich weiß der Kunde aber wirklich erst ganz am Ende, wenn der Schuh aus dem gewählten Leder fertig ist, wie er sitzt. Die Trefferquote scheint hoch zu sein, denn es kommt nur selten vor, dass ein fertiger Schuh geändert werden muss. Wenn doch, nimmt Dellantonio ihn komplett wieder auseinander. Sofern eine punktuelle Änderung nicht hilft. Wer es eilig hat oder kein Interesse an Maßschuhen, kann aus einer kleine Auswahl fertiger Modelle in Konfektionsgrößen wählen. Sie werden wie die Maßschuhe von Hand genäht, nur halt auf Fertigleisten. Georg Materna hatte schon vor vielen Jahren die Idee, Schuhe auf Vorrat zu fertigen, wenn es in der Werkstatt gerade mal ruhig war. Das ist heute fast nie der Fall, Maßschuhe sind sehr gefragt.