Sakkos und Anzüge aus Seersucker habe ich erstmals in den späten 1980er Jahren in Secondhand-Läden in Augenschein nehmen und probieren können. Meistens handelte es sich um amerikanische Kleidungsstücke, die nach Schnitt und dem Design der Etiketten zu urteilen aus den 60er oder 70er Jahren stammten. Mit etwas Glück konnte man ein gut erhaltenes Stück renommierter Marken wie Brooks Brothers, J. Press oder Haspel finden, meistens wiesen die Etiketten aber auf in Europa völlig unbekannte Einzelhändler oder Marken hin. Komplette Seersuckeranzüge waren aus zweiter Hand sehr schwer zu bekommen. Neu gab es sie in Europa praktisch gar nicht. In Köln habe ich deshalb in den späten 90ern im Ausverkauf einmal einen Baumwollanzug mit so genannten „Schwesternstreifen“ gekauft. Die schmalen, hellblauen Streifen auf weißem Grund ähneln dem typischen Seersucker-Dessin, der Stoff war von der Webart her aber etwas ganz anderes.
Seersucker zeichnet sich dadurch aus, dass der Stoff eine etwas verkrumpelte Oberfläche hat, er ist also nie vollkommen glatt. Das hat zwei Vorteile im Sommer. Erstens: liegt der Stoff nie plan auf, es ist also immer etwas Luft dazwischen. Das ist besonders bei ungefütterter Verarbeitung und an den Hosenbeinen spürbar. Zweitens: Das unvermeidliche Knittern fällt weniger auf, ein Seersuckeranzug ist ohnehin nie ganz glatt. Wer mag, kann den Anzug natürlich nach jedem Tragen bügeln. Charmanter wirkt jedoch der etwas lässigere Stil. Baumwollseersucker war in den USA nie ein wertvolles Gewebe, italienische Weber haben in den letzten Jahren aber verschiedene Luxusvarianten herausgebracht. Es gibt inzwischen Kaschmir-Seersucker, sogar Woll-Seersucker und Seersucker aus Garnmischungen. Für mich ist Baumwoll-Seersucker aber die authentischere Wahl. Luxusseersuckerstoffe empfinde ich als ähnlich widersinnig, wie Kaschmir-Denim.
Die gebrauchten Seersuckersakkos (oder Anzüge, sofern man sie gefunden hat) waren meistens nicht aus reinem Baumwoll-Seersucker; üblich waren bei amerikanischen Mainstream-Marken Beimischungen von Synthetikgarnen. Auch komplett synthetischer Seersucker war in den 60er und 70er Jahren beliebt. Anzüge aus Seersucker mit hohem Synthetikanteil waren für den Alltagseinsatz im heißen und feuchten Sommer der amerikanischen Südstaaten gemacht. Oftmals waren sie waschbar, ein Handlungsreisender konnte den Anzug abends in der Hotelbadewanne waschen, über Nacht trocknen lassen und am nächsten Tag ein frisches Kleidungsstück anziehen.
Als ich 1999 in New York war, besuchte ich auch die Stoffhandlung Beckenstein Men’s Fabrics. Der inzwischen verstorbene Inhaber, Neal Boyarsky, schenkte mir als Erinnerung drei Anzuglängen Seersuckerstoff. Eine ließ ich bei Belvest in Italien zu einem einreihigen, ungefütterten Anzug ohne Seitenschlitze und mit aufgesetzten Taschen verarbeiten, aus einer zweiten wurde bei Regent in Weißenburg ein Doppelreiher für mich genäht. Als ich damals mit diesen Anzügen unterwegs war, erntete ich verwunderte oder erheiterte Blicke, auch bei Leuten aus der Modebranche. Heute sind Seersuckeranzüge ein häufiger Anblick beim Publikum der Modemessen, auf der Straße sind sie allerdings immer noch rar.
Ein Grund, warum Seersucker bis jetzt bei uns als Stoff für Sommeranzüge nicht häufig verwendet wird ist meines Erachtens das typische Dessin mit Hellblau und Weiß. Zu den feinen Streifen in den typischen Farben passen die üblichen hellblauen Hemden nicht, schon gar nicht, mit feinen Streifen oder Karos. Deshalb gefällt mir der Trend zu einfarbigen Seersuckeranzügen. Sie lassen sich mit allen Hemden kombinieren und sie passen zu viel mehr Hauttönen, als das eher ungünstige, feingestreifte Hellblau-Weiß, z. B. die einfarbigen Seersucker-Anzüge von Anton Meyer aus Baumwollstoffen von Solbiati. Mein Favorit ist der grüne Seersuckeranzug, er wirkt ein wenig raffinierter als das Gegenstück in Blau. Jacke und Hose des Anzugs können auch gut separat getragen werden, die grüne Seersuckerjacke sieht sehr gut aus mit Chinos, Jeans oder auch dunkelgrauen Hosen aus feinem Wollfresko.