Wer sich zum ersten Mal für Maßkleidung entscheidet, hat über diesen Schritt oft lange nachgedacht. Ein zentraler Punkt dieser Überlegungen war sicherlich, wie und wo der richtige Schneider für die individuellen Bedürfnisse zu finden sei. Soll man sich einem renommierten, in der Regel teuren Haus anvertrauen, oder wagt man ein Experiment mit einem weniger bekannten, vielleicht günstigeren Schneider? Günstigere Schneider liefern oft gute Arbeit. Die großen Preisunterschiede der Maßschneider haben vor allem mit Raum- und Lohnkosten zu tun. Schneider aus Ländern mit niedrigeren Kosten können einen niedrigeren Preis kalkulieren.
Der eine arbeitet schnell, der andere langsam. Der eine arbeitet schnell und gut und der andere langsam und auch nicht besser.
Preise sind ein Marketinginstrument. Ein hoher Preis suggeriert hohe Qualität, niedrige Preise wecken bei manchen Kunden den Verdacht, dass der Schneider nicht gut arbeitet. Vor allem deutsche Schneider argumentieren gern mit dem hohen Zeitaufwand. Den Kunden interessieren diese Argumente allerdings weniger, da die Multiplikation von Stundenanzahl mit Stundensatz das individuelle Arbeitstempo nicht berücksichtigt. Der eine arbeitet schnell, der andere langsam. Der eine arbeitet schnell und gut und der andere langsam und auch nicht besser. Deshalb ist es sehr wichtig, dass man sich die Arbeit des in Frage kommenden Schneiders genau ansieht. Im Idealfall kennt man mehrere Kunden. Das Erscheinungsbild des Schneiders ist übrigens wenig aussagekräftig. Es gibt sehr gute Schneider, die sehr sportlich und lässig gekleidet sind. Das gilt besonders bei kleinen Betrieben, in denen der Chef selbst in der Werkstatt arbeitet. Nicht jeder Schneider arbeitet gern in Anzug und mit Hemd und Krawatte. Elegant auftretende Schneider sind gute Werbeträger für ihr Atelier, zu große Eleganz kann neue Kunden allerdings auch einschüchtern. Oder den Eindruck erwecken, dass der Schneider mehr an seinem Aussehen als an dem des Kunden interessiert ist.
Eine persönliche Empfehlung ist einer der verlässlichsten Anhaltspunkte. Wenn jemand aus dem Bekanntenkreis ein besonders schönes Stück trägt und als Quelle dafür eine unbekannte Adresse angibt, kann es durchaus sein, dass er soeben einen Geheimtipp verraten hat. In einem solchen Fall darf man ruhig über Schwächen in der Ausstattung des Verkaufsraums oder im Outfit des Schneiders hinwegsehen und zuversichtlich die erste Anprobe abwarten. Gerade die kleinen Betriebe bieten oft einen sehr persönlichen und geradezu aufopferungsvollen Service. Da kommt der Inhaber zur Anprobe ins Büro oder am Sonntag in die Privatwohnung. Zieht man in eine andere Stadt, werden oft viele Kilometer gefahren, um die neue Jacke zu probieren. Vielleicht kann derjenige, der den Geheimtipp abgegeben hat, zum ersten Termin bei dem Schneider mitkommen. Schneider sind nicht immer die besten Kommunikatoren und leider lassen sich manche auch vom Auftreten eines Neukunden beeinflussen. Wer in Begleitung eines Stammkunden erscheint, wird in aller Regel von Anfang an gut bedient.
Kathrin Emmer, Herrenschneiderin in Potsdam. Carlo Jösch, Couturier für Herren und Damen aus Köln.
Viele angehende Schneiderkunden möchten unbedingt bei Schneidern aus Italien arbeiten lassen. Sie trauen Handwerkern aus anderen Ländern nicht zu, dass sie ein elegantes Kleidungsstück abliefern oder ihren Geschmack treffen. Die Reise zu dem Schneider ist ihnen nicht lästig, vielmehr Teil des Vergnügens. Ich habe einige Bekannte, die regelmäßig nach Italien reisen, um dort ihren Schneider zu besuchen. Manchmal bleiben sie zwei oder drei Tage, damit sie gleich zwei Anproben machen lassen können. Dagegen ist natürlich nur wenig einzuwenden. Wer ein Faible für den italienischen Stil hat, sollte bei einem Italiener schneidern lassen. Vorausgesetzt, dass er mit dem Schneider kommunizieren kann. Mittlerweile sprechen viele Schneider aus Italien hinreichend gut Englisch oder haben Mitarbeiter, die als Übersetzen fungieren können. Wenn man man ohnehin im Stil des betreffenden Schneiders arbeiten lassen möchte, muss bei der Bestellung oder den Anproben nicht gesprochen werden. Wenn allerdings etwas schiefläuft oder nicht wunschgemäß ausgefallen ist und man reklamieren möchte, erweist sich das Fehlen einer gemeinsamen Sprache als nachteilig. Wenn der Schneider bei der Bestellung anscheinend noch alles verstanden hat, trifft man mit seiner Reklamation oft plötzlich auf verständnislose Blicke. Der Mitarbeiter, der sonst als Übersetzer bereitgestanden hat, ist nicht auffindbar. Deshalb sollte man Vorsorge treffen und für den Reklamationsfall einen Bekannten an der Hand haben, der die nötigen Gespräche führen kann.
Atelierbesuch bei Jan Suchy in Leipzig.
Wenn das Budget keine Grenzen setzt, kann der angehende Schneiderkunde ganz nach Belieben das erste Mal planen. Dennoch sollte man genau überlegen, ob die berühmte Adresse in Paris, London, Mailand, Neapel oder Wien wirklich der ideal Startpunkt ist. Sicherlich wird man bei einem berühmten Schneider gut bedient werden. Allerdings ist fraglich, ob Preise von 5000 Euro aufwärts wirklich zu rechtfertigen sind. Ein guter Mittelweg sind etablierte Werkstätten mittleren bis gehobenen Preisniveaus. Ein Freunde von mir, der schon länger von einem italienischen Schneider geträumt hatte, hat sich nach einem ersten Kennenlernen in Neapel für Gennaro Solito entschieden. Solito ist sehr angesehen in Italien und arbeitet für eine Reihe von Kunden aus der Textilindustrie. Seine Preis sind im Vergleich zu deutschen oder österreichischen Schneider moderat. Mein Freund war sehr zufrieden, mittlerweile lässt er aber überwiegend bei einem weniger bekannten und etwas günstigeren Schneider in Neapel arbeiten. Einem anderen Bekannten, der keine Zeit für regelmäßige Reisen nach Italien, habe ich Massimo Pasinato aus Vicenza empfohlen. Auch Pasinato arbeitet zu einem relativ bezahlbaren Tarif, er kam bis zur Corona-Krise regelmäßig nach Deutschland.
Schneiderwerkstätten sind so individuell verschieden wie die Kleidung, die dort entsteht. Hier das Wiener Atelier von Hedi Rochowanski. Moritz Kossytorz, Sartoria Massura, steckt eine Hose ab.
Wer sich heute für Schneider aus dem Ausland entscheidet, sollte die Erfahrungen mit dem Lockdown im Frühjahr 2020 mit in die Überlegungen einbeziehen. Der Salon Hartl aus Prag konnte z. B. einige Monate lang nicht zu seinen Kunden nach Wien fahren, sobald die Grenzen aber wieder passierbar waren, hat er die Reisetätigkeit wieder aufgenommen. Ein Schneider, der von Deutschland oder Österreich aus in drei bis fünf Stunden Zug- oder Autoreise erreichbar ist, kann im Bedarfsfall relativ problemlos aufgesucht werden. Ein Schneider aus weiter entfernten Ländern erweist sich in vielen Situationen als zu weit „ab vom Schuss“. Das gilt auch im Reklamationsfall. Es ist ärgerlich, wenn am fertigen Teil eine kleine Änderung nötig ist und der Schneider erst wieder in sechs Monaten im Lande sein wird.
James Whitfield, der Londoner „bespoke tailor“
in Berlin.In der Werkstatt des Herrenschneidermeisters
Josef Blecha in Wien.Rudolf Niedersuesz, Herr und Zuschneider im Hause Knize, Wiens berühmtester Herrenschneiderei.