Bespoke Basics — Die erste Anprobe

Die erste Anprobe ist eine spannende Angelegenheit für Maßschneider und Kunde. Vor allem, wenn der Kunde wirklich erste Mal in seinem Leben etwas beim Maßschneider in Auftrag gegeben hat. Wer sich nicht für Kleidung begeistert, wird das nicht nachfühlen können. Wer aber zu den wirklichen Fans der Maßschneiderei gehört und seit Jahren von diesem Moment geträumt hat, wird ihn mit großer Spannung erwarten und dann hoffentlich auch genießen können.

Den Anzug zu ordern, ist angesichts der damit verbundenen Kosten aufregend genug. Die meisten Schneider strahlen aber so viel Professionalität aus, dass man sich in aller Regel gut aufgehoben fühlt. Wenn kein gutes Gefühl aufkommen will, könnte das auf eine von vorn herein schlechte Wahl des Schneiders hinweisen. Es kann allerdings auch ein Indikator dafür sein, dass der Kunde sehr unsicher oder vielleicht sogar misstrauisch ist. Im besten Fall geht der Kunde aber zuversichtlich und voller Vorfreude wieder seiner Wege. In der Zeit bis zur ersten Anprobe, die wenigstens ein paar Tage, meistens aber mehrere Wochen dauert, kann Unsicherheit aufkommen. War es richtig, einen Zweireiher zu bestellen? Hätte ich die Taschen vielleicht doch mit Patten ordern sollen? War es klug, die Hosen auf Hosenträger auslegen zu lassen? Und vor allem: Wird mir der Stoff auch noch gefallen, wenn ich ihn als kompletten Anzug vor mir sehe? Anlässe zum Zweifeln und Grübeln gibt es genug. Der Schneider ist vor der Premiere seines Anzugs übrigens oft genauso angespannt, wenn nicht angespannter. Für ihn geht es unter Umständen um das Überleben seines Geschäfts, um das Wohlwollen seines Chefs, sofern er angestellt ist. Und natürlich um die Zufriedenheit des Kunden. Was wird der für ein Gesicht machen, wenn er die Jacke übergestreift hat und sich darin das erste Mal im Spiegel sieht? In Bruchteilen von Sekunden entscheidet sich, ob der Kunde zufrieden ist oder wenigstens nicht unzufrieden. Erfahrene Schneider wissen das. Wenn der Kunde spontan lächelt und sich entspannt, dann ist der Auftrag schon in diesem Moment so gut wie erledigt. Was dann folgt ist nur noch Routine. Wenn der Kunde aber keine Regung zeigt oder gar erschrocken in den Spiegel blickt, dann hat der Schneider hat ein hartes Stück Arbeit vor sich. Und selbst wenn der Kunde am Ende dann vorgibt zufrieden zu sein, ist er es am Ende meistens nicht. Nur wenn er wirklich irgendwann wiederkommt, ist es dem Schneider gelungen, dem Ganzen noch eine glückliche Wendung zu geben.

Der provisorische Kragen wurde bereits abgenommen, jetzt wird der Rücken neu gesteckt.

Nachdem der Zuschneider den Stoff zugeschnitten hat, übergibt er ihn zusammen mit allen Einlagen und Zutaten an einen spezialisierten Jacken-, Westen- oder Hosenschneider. Je nach Größe des Unternehmens handelt es sich hierbei um Festangestellte oder um Heimarbeiter. Diese Fachkräfte bereiten die erste Anprobe vor. In kleineren Schneidereien wird dieser Arbeitsschritt vom Zuschneider selbst übernommen. Dies ist oft von Vorteil, da er den Schnitt auch konstruiert hat und den Kunden kennt. So kann er die Besonderheiten von dessen Figur direkt in die Anprobe einfließen lassen.

In größeren Ateliers endet die Arbeit des Zuschneiders vorerst mit der Weitergabe des Bündels an die einzelnen Schneider. Bis die Anprobe fertig ist, wird er sich um andere Kunden kümmern. Unterdessen geschieht einiges in der Werkstatt: Die Einlagen werden gewaschen und gebügelt, um späteres Schrumpfen zu verhindern, die Schulterpolster werden ausgeschnitten und schichtweise zusammengenäht, die Einzelteile von Hose, Weste und Jacke werden aneinandergeheftet – und abschließend muss der vorläufige Anzug auch noch in Form gebügelt werden. Je nach Feinheit des verarbeiteten Stoffs und je nach individuellem Tempo aller Beteiligten fallen bereits in diesem frühen Stadium zahlreiche Arbeitsstunden an, wobei sich diese Zeiten auf Wochen und Monate verteilen können, oder aber nur auf ein paar Tage, falls es der Kunde sehr eilig hat.

Die erste Anprobe dient nicht nur der stilistischen Überprüfung, der Zuschneider nutzt sie auch, um die Jacke genau auszubalancieren. Auch wenn er jene Besonderheiten der Figur, die für die Balance entscheidend sind, bereits bei der Schnittaufstellung berücksichtigt hat, bleibt der Test am lebenden Objekt doch unverzichtbar. So könnte zum Beispiel der Kunde beim Maßnehmen eine für ihn ungewöhnliche aufrechte Haltung eingenommen haben. Wenn er sich nun bei der Anprobe entspannt und seinen Körper wieder leicht vorbeugt, ist die Jacke vorn plötzlich zu lang. Ein weiteres mögliches Problem sind Gewichtsveränderungen zwischen dem Maßnehmen und der ersten Anprobe. Wenn der Kunde zugenommen hat, passt die Jacke vielleicht schon nicht mehr wie geplant.

Hier geht es zur Website von Markus Schnurr.

Der Text ist ein Auszug aus Bernhard Roetzels Buch „Der Gentleman nach Maß“, erschienen bei h. f. ullmann.