In den Maßschneidereien dieser Welt herrscht die einhellige Meinung, dass Anproben unerlässlich sind. Selbst bei einem bewährten Schnittmuster würde kein Schneider freiwillig darauf verzichten, zweimal den halbfertigen Anzug am Kunden zu sehen. Nur ganz ausnahmsweise, z. B. wenn ein Kunde, für den schon häufiger Anzüge gemacht wurde, wirklich nur für eine Anprobe Zeit hat oder aus anderen Gründen Termindruck besteht, werden die üblichen zwei Anproben zu einer zusammengefasst. Diese Anprobe entspricht dann in etwa der sonst üblichen zweiten Anprobe, bei der z. B. schon die Taschen fertig sind. Einige Schneider der Savile Row, die viel Geschäft im Ausland machen, verzichten ebenfalls auf die zweite Anprobe und schicken das Kleidungsstück nach einer Anprobe an den Kunden. Auch Reiseschneider aus Italien lassen die zweite Anprobe gern weg, um Kosten zu sparen. Der Normalfall ist das aber nicht und Kunden sollten aufhorchen, wenn Schneider behaupten, dass sie ab der zweiten Bestellung mit einer Anprobe auskommen.
Die Anproben sind ein wichtigtes Unterscheidungsmerkmal zwischen der Maßschneiderei vom Handwerker und der Maßkonfektion. Einige Maßkonfektionäre bieten zwar auch Anproben an, allerdings ist das Kleidungsstück dann schon viel weiter fortgeschritten und lässt sich nicht mehr so grundlegend ändern, wie das zur ersten Anprobe beim Schneider zusammengeheftete Teil. Abgesehen davon, dass Maßkonfektionsanzüge immer auf bestehenden Konfektionsschnittmustern beruhen, die Position der Taschen oder die Breite der Revers lässt sich deshalb nicht beliebig ändern.
Die Franzosen nennen die Handwerksarbeit „le grand sur-mesure“ und die Maßkonfektion „le sur-mesure industriel“, was den Unterschied gut beschreibt. Auf der einen Seite die „große“ Handwerksarbeit, die auf Deutsch auch als „Vollmaß“ bezeichnet wird, auf der anderen die industriell gefertigte Maßkleidung – die gleichwohl einen hohen Anteil von Handarbeit aufweisen kann. So eindeutig es ist, dass die Anproben die Arbeit des Schneiders klar von der des Maßkonfektionsanbieters unterschieden, so uneins sind die Schneider darüber, wie die erste Anprobe abzulaufen hat. Die Rede ist von den Ärmeln. Sollen sie bei der ersten Probe eingeheftet sein oder nicht? Die einen sind dafür, die anderen dagegen, und eine dritte Fraktion zieht es vor, nur einen der beiden Ärmel einzuheften. Ganz abgesehen von manchen Pariser Schneidern, die für die erste Anprobe noch nicht den vom Kunden georderten Stoff, sondern nur ein neutrales Leinengewebe zuschneiden und zusammenheften.
Betrachten wir zunächst die Methoden der englischen Maßschneider. Hier wird in aller Regel mit beiden Ärmeln probiert, denn zum einen kann der Kunde sich auf diese Weise einen besseren Eindruck von seinem Kleidungsstück verschaffen, und zum anderen muss die Jacke nach der ersten Anprobe ohnehin wieder vollständig auseinander genommen werden. Notwendige Änderungen, wie etwa eine Vergrößerung des Armlochs, zeichnet der Schneider mit Kreide an und setzt sie später um. Das dritte Argument für die Anprobe mit Ärmeln ist die dadurch zu erreichende Zeitersparnis. Sollte zum Beispiel etwas mit der Weite oder der Position des Ärmels nicht stimmen, wird dies jetzt schon und nicht erst bei der zweiten Anprobe auffallen. Dementsprechend kann der geänderte Ärmel bei der zweiten Anprobe gleich mitbegutachtet werden. Auf die Frage, warum seine kontinentalen Kollegen ohne oder nur mit einem Ärmel probieren, antwortete ein Londoner Zuschneider lakonisch: „Vielleicht sind sie zu faul, die Ärmel für die Anprobe einzusetzen.“
Dies weisen die solchermaßen verdächtigten Zunftgenossen natürlich weit von sich. So argumentiert ein deutscher Maßschneider: „Es hat keinen Sinn die Ärmel einzusetzen, da ich ja vielleicht noch etwas am Armloch machen muss. Und die Balance kann ich auch ohne Ärmel überprüfen.“ Dies mag zwar richtig sein, doch der Kunde bleibt bei diesem Verfahren auf der Strecke. Schneider, die bei der ersten Anprobe ohne Ärmel arbeiten, sind vermutlich der Auffassung, dass dieser wichtige Termin vor allem für sie selbst gedacht ist. Der Kunde wird erst in der zweiten Stufe einbezogen, deshalb werden auch dann erst die Ärmel eingefügt. Allerdings zeigen sich gerade Neulinge im Maßatelier bei der ersten Anprobe entsetzt über den Anblick des ärmellosen Rohlings und können sich nur schwer vorstellen, dass daraus irgendwann ein elegantes Kleidungsstück werden soll. Die geringe Mehrarbeit, die das Einheften der Ärmel bedeutet, ist also auch eine vertrauensbildende Maßnahme, die sich gerade bei Erstkunden lohnt.
Was wiederum spricht für das Einheften eines Ärmels statt beider? Auch diese Methode hat ihre Anhänger, doch eigentlich lässt sich kaum ein stichhaltiges Argument dafür finden. Entweder verzichtet man aus den genannten Gründen ganz auf die Ärmel, oder aber man heftet beide ein. Zwar ist auch an einem einzelnen Ärmel ablesbar, ob dessen Weite stimmt, doch ob er richtig eingesetzt ist, muss schließlich auf beiden Seiten überprüft werden. Deshalb heißt es auch in der in den dreißiger Jahren in Hannover erschienenen Fachzeitung Die Zuschneidekunst, dass grundsätzlich entweder kein Ärmel oder beide einzuheften sind. Außerdem, so warnt das Blatt, bestehe die Gefahr, dass bei einer Anprobe mit nur einem Ärmel sich das Kleidungsstück nach dieser Seite herüberzieht. Der englische Maßschneider Simon Skottowe, der ein Atelier in Budapest betreibt, macht einen Kompromiss. Er heftet für die erste Anprobe beide Ärmel ein und überprüft dann, wie wie die Ärmel sitzen und ob sie noch gedreht werden müssen. Den Ärmel zu drehen bedeutet, dass er an die Haltung der Arme im entspannt herabhängenden Zustand angepasst wird. Außerdem überprüft Skottowe, der regelmäßig bei dem Wiener Tuchhändler und Herrenausstatter Wilh. Jungmann & Neffe zu Gast ist, die Passform des Ärmels am Bizeps und an den Schultern. Anschließend entfernt er die Ärmel wieder und überprüft die Position des Armlochs.
Wie oben erwähnt, gehen manche Pariser Schneider einen ganz anderen Weg. Sie übertragen das Schnittmuster vom Papier nicht gleich auf den gewünschten Stoff, sondern auf ein neutrales Leinengewebe (toile), das sie anschließend zuschneiden zusammenheften. Eine Methode, nach der übrigens auch die Haute-Couture-Schneider bei der Modellentwicklung sowie einige Hemdenmacher arbeiten. Für diese Technik spricht, dass man bei Kunden mit sehr schwierigen Figuren das Schnittmuster nach der Anprobe sehr stark abändern kann, ohne den Musterverlauf des Originalstoffs zu beeinträchtigen oder ihn gar zu verschneiden. Allerdings fällt die „toile“ natürlich etwas anders als der Anzugstoff, insofern sind spätere Anpassungen auch bei diesem Verfahren notwendig. Sicherlich liefert die Anprobe eines Prototyps aus neutralem Stoff dem Zuschneider wertvolle Erkenntnisse, doch nicht jeder Kunde ist bereit, deshalb länger auf seinen Anzug zu warten. Darüber hinaus erhöht dieser Zwischenschritt auch die Kosten. Mit „toile“ arbeiten hierzuande viele Damenschneider, doch auch Herrenschneider verwenden diese Methode gelegentlich, z. B. Carlo Jösch in Köln.
Zur Arbeitsweise der deutschen Maßschneider gehört die sogenannte Stecknadelprobe. Hierbei wird das geheftete Kleidungsstück direkt am Kunden aufgetrennt und wieder neu zusammengesteckt. Der zukünftige Besitzer des Maßanzugs zieht zunächst die vorbereitete Jacke an. Anhand der durch Einschlagstiche markierten Querzeichen schließt der Zuschneider die Vorderteile mit Stecknadeln. Nun werden Ärmellänge und Schulterbreite kontrolliert. Anschließend entfernt der Zuschneider die Ärmel und den Oberkragen, indem er – je nach seinem persönlichen Stil – die Heftnähte mit der Schere auftrennt oder die Einzelteile mit Schwung herunterreißt. Nun geht er daran, die Balance zu überprüfen und gegebenenfalls zu verbessern. Dazu wird die Schulternaht aufgetrennt und das Vorderteil so lange der Körperkontur angepasst, bis das gewünschte Ergebnis erreicht ist. Die Einlage im Schulterbereich wird ebenfalls optimiert. Nun wird das Rückenteil am Körper hochgestrichen und überschüssiger Stoff abgesteckt. Wenn die Schulter fertig ist, begutachtet der Zuschneider noch einmal den Rücken und die Seiten, um sie notfalls ebenfalls zu öffnen und neu festzustecken. Ist dies getan, wird der Kragen wieder fixiert. Heinz-Josef Radermacher in Düsseldorf arbeitet so, oder Volkmar Arnulf in Potsdam.
Es herrschen unterschiedliche Auffassungen darüber, ob die Stecknadelprobe Sinn macht oder eher überflüssig ist, allerdings wäre es ungerecht, ihren Anhängern Effekthascherei oder gar mangelnde Sicherheit im Zuschnitt zu unterstellen. Genauso wenig trifft es zu, dass allein die Stecknadelprobe ein perfektes Ergebnis garantiert, denn diese Behauptung würde implizieren, dass die Verfechter der Kreideprobe weniger vollkommene Anzüge liefern. Nadel und Kreide sollten als zwei unterschiedliche Wege zum gleichen Ziel gesehen werden. Im Allgemeinen wird ein erfahrener und talentierter Zuschneider bei der ersten Anprobe aber ohnehin schon ein recht gut passendes Kleidungsstück präsentieren. Lediglich bei sehr schwierigen Figuren oder starken Gewichtsveränderungen kann es gerechtfertigt sein, eine Jacke am Körper aufzutrennen und neu zusammenzustecken. So oder so sollte der Kunde jedoch die Arbeitsmethoden der verschiedenen Schneidertraditionen respektieren. Welche Vorgehensweise ihm am meisten zusagt, hängt letztlich auch davon ab, in welcher dieser Traditionen er sich stilistisch am besten aufgehoben fühlt.
Fotografie (Cover): Veronika Hanušová