Viele Männer träumen von Maßschuhen. Selbst solche, die sich nicht klassisch kleiden. Da die meisten Menschen nie einem Maßschuhträger begegnet sind, halten sich die Legenden über den Maßschuh hartnäckig. Zum Beispiel die, dass Maßschuhe ein Maximum an Bequemlichkeit bieten. Ein berühmter Maßschuhmacher aus Wien soll seine Kunden vor der Bestellung gefragt haben, ob sie sich einen schönen Schuh oder einen bequemen Schuh wünschen. Diese Frage fasst das Problem sehr gut zusammen: Ein schöner Schuh ist nicht unbedingt angenehm zu tragen. Und der bequeme Schuh entspricht nicht unbedingt unseren Vorstellungen von Eleganz. Die Idee, dass Maßschuhe vor allem bequem sein sollen, ist relativ modern. Noch um 1900 stand die Eleganz im Vordergrund. Das Äußere des Schuhs hatte sich der Ästhetik zu unterwerfen. Frauen formten damals auch noch ihre Figur mit Hilfe eines Korsetts, wer schön sein wollte, musste leiden. Deshalb gab es damals bei Maßschuhen auch noch keine Anproben. Es hätte als absurde Materialverschwendung gegolten, einen Testschuh zu bauen. Vermutlich stammt aus diesen Zeiten auch die Legende, dass Maßschuhe vom Diener eingetragen werden mussten.
Wer 300 Paar Schuhe im Schrank stehen hat, wird wegen eines Paars Maßschuhe, das nicht ganz so toll sitzt, nicht unbedingt einen Streit vom Zaun brechen.
Bernhard Roetzel
Auch heute sind sich die Maßschuhmacher nicht unbedingt einig darüber, ob Form oder Funktion im Vordergrund stehen. Sicherlich würden die meisten behaupten, dass ihre Schuhe äußerst bequem sind und besser passen, als Schuhe von der Stange. Wenn man sich allerdings die Modelle in den Vitrinen einiger Handwerker ansieht, ist die Anpassung der gezeigten Schuhe an individuelle Fußformen nur schwer vorstellbar. Wobei natürlich Modelle die Idealvorstellung wiedergeben. Sehr viele Kunden werden mit ganz anderen Schuhen aus dem Laden gehen.
Die meisten Maßschuhmacher arbeiten heute mit Probierschuhen. Sie sichern damit sich selbst ab und nehmen auch dem Kunden etwas von der Angst, dass der teure Schuh am Enden drücken könnte. Wobei der Probierschuh natürlich nie mit dem Endprodukt identisch ist. Der Probierschuh ist aus anderem Leder gefertigt und auch der Unterbau unterscheidet sich meistens vom Endprodukt. Der fertige Schuh kann aber nicht probiert werden, ihn bekommt der Kunde erst dann zu sehen und zu spüren, wenn das Werk vollendet ist. Anders beim Maßschneider. Wenn der die erste Anprobe aus einem neutralen Stoff zuschneidet und erst danach die „richtige“ Ware zuschneidet, wird der Kunde natürlich auch noch den Anzug aus dem endgültigen Stoff probieren. Wenn der Maßschuh drückt, muss der Maßschuhmacher entweder punktuell das Leder strecken, schlimmstenfalls muss er den Schuh wieder auseinandernehmen, den Leisten ändern und den Schuh neu wieder aufbauen. Das kommt selten vor, wenn vorher ein Probierschuh gefertigt wurde, doch es passiert.
Ob es bei den Maßschuhmachern häufiger nötig ist, die ohne Probierschuh arbeiten, lässt sich schwer quantifizieren. Alle Maßschuhmacher räumen gelegentliche Fehlschläge ein, nennen aber selten genaue Zahlen. Die Tatsache, dass einige sehr alte Maßschuhmachereien ohne Probierschuhe wirtschaftlich arbeiten können, scheint für deren Erfolgsquote zu sprechen. Wobei die Reklamationsquote sicherlich auch mit dem Renommee des Maßschuhmachers zusammenhängt und dessen Art, mit den Kunden umzugehen.
Einigen berühmten Adressen eilt ein dermaßen einschüchternder Ruf voraus, dass manch einer sich schlicht nicht trauen wird, ernsthaft den Neubau des Schuhs zu fordern. Oder die Kundschaft ist dort vielleicht so betucht, dass kein Interesse an langwierigen Reklamationen besteht. Wer 300 Paar Schuhe im Schrank stehen hat, wird wegen eines Paars Maßschuhe, das nicht ganz so toll sitzt, nicht unbedingt einen Streit vom Zaun brechen. Und man darf auch nicht vergessen, dass nur ein bestimmter Anteil der Kunden überhaupt mehrfach ordert oder mehrfach ordern will. Es ist durchaus nicht ungewöhnlich, dass ein Kunde nach dem ersten Paar nie wieder etwas bestellt. Nicht, weil der Schuh schlecht war, vielmehr weil die Maßschuhe von vorn herein als einmaliges Erlebnis gedacht waren. Deshalb berechnen viele Maßschuhmacher bei dem ersten Paar den Bau des Leistens separat. Oder Sie verlangen stattdessen, dass der Kunde gleich mehrere Paar bestellt.
Es gibt sehr viele sehr zufriedene Maßschuhträger. Aber nicht jeder Schuhfan, der schon viele Jahre lang rahmengenähte Qualitätsware an den Füßen trägt, wird mit Maßschuhen glücklicher sein als mit dem, was er schon gewohnt ist. Tatsächlich werden die meisten Maßschuhmacher zugeben, dass ihr Produkt nur um Nuancen besser ist, als ein sehr gut sitzender Schuh von der Stange. Das große Aha-Erlebnis haben vor allem die Maßschuhkunden, die vom günstigen Durchschnittsschuh auf den rahmengenähten Volllederschuh umsteigen. Das große Passformplus könnten Sie vielleicht aber auch bei einem Anbieter von rahmengenähten Konfektionsschuhen erleben, der mehrere Leistenformen und Breitengrößen im Angebot hat.