Wer jemanden als „Geheimtipp“ bezeichnet, der seit 1996 im Geschäft ist, könnte schlecht informiert sein. Oder der Geheimtipp arbeitet unter dem Radar. Marc Anthony gehört überraschenderweise nicht zu den üblichen Verdächtigen unter den Hamburger Maßausstattern. Was vielleicht daran liegt, dass die Kunden genauso wenig Aufhebens um ihren Anzugmacher machen wie er um sich selbst. Ich habe Marc Anthony auch erst vor drei Jahren zum ersten Mal besucht. Der Name war mir geläufig, ich verband aber kein konkretes Bild damit. Ich fragte mich nur, ob der Name echt ist. Ja, das ist er genau. Marc Anthony heißt so. Anthony spricht sich übrigens deutsch aus mit Betonung auf dem o. Inzwischen kenne ich ihn ein bisschen besser, denn er ist Mitgründer des Konfektionsgeschäfts Anton Meyer. Und vor einiger Zeit habe ich ihn auch schon einmal für die Zeitschrift Tweed interviewt. Vor zwei Wochen war ich erneut in seinem Laden in Hamburg, dieses Mal in Begleitung von Martin Smolka.
Das Geschäft liegt auf dem Gelände des ehemaligen Gaswerks im Stadtteil Bahrenfeld, bekannt durch das Design-Hotel Gastwerk. Für Autofahrer ist das Areal gut zu erreichen, Parkplätze gibt es dort genügend. Wer mit Bahn und Bus anreisen möchte kann von der Innenstadt aus z. B. mit der U2 bis Messehallen fahren und dort in den Bus umsteigen. Von der Haltestelle Bornkampsweg sind es etwa 10 Gehminuten. Geschäft und Atelier nehmen eine ganze Etage in dem Backsteinbau aus dem späten 19. Jahrhundert ein. Es gibt kein Schaufenster, stattdessen weisen Banner den Weg zur Eingangstür. Nach dem Klingeln ertönt ein Summer und die Tür öffnet sich zum Treppenhaus. In der ersten Etage eine weitere Tür, die in einen überraschend großen Raum führt.
„Ein leichter Covert-Stoff, in England gewebt. Das Überkaro macht ihn interessant.“ Er legt ihn mir über die Schulter und lässt mich einen Blick in den Spiegel werfen.
In der Mitte stehen lange Tische, die mit Stoffballen vollgepackt sind. Links eine Sitzgruppe und ein großer Schneiderspiegel, an der Kopfseite des Raumes weitere Tische mit Stoffen und Kleiderstangen mit Sakkos und Mänteln. Im Raum daneben Tische mit Hemdenstoffen, die Wand entlang stapeln sich grüne Schuhkartons mit goldener Beschriftung – Marc Anthony führt Edward Green. Der dritte Raum der Zimmerflucht ist so etwas wie ein Salon oder Schreibzimmer. Ein breites weißes Sofa mit Couchtisch erzeugt Wohnzimmeratmosphäre.
Da wir ein paar Minuten vor dem verabredeten Termin da sind, werden wir auf das Sofa gebeten und bekommen Wasser, Tee und Kaffee. In einem weiteren, sehr geräumigen Nebenraum, arbeiten die Schneiderinnen. Marc Anthony lässt in Portugal fertigen, Schnittanpassungen nach der Anprobe werden in Hamburg erledigt. Auch der Langzeitservice gehört zum Angebot, dazu gehören Reparaturen oder Änderungen. Wenn Kunden nach ein paar Jahren ihr Gewicht verändern oder durch Training ihre Figur, kann die Maßgarderobe angepasst werden. Nach ein paar Minuten und pünktlich zum Termin kommt der Chef dazu. Er trägt einen dunkelblauen Zweireiher aus schwerem englischen Cavalrytwill. Nachdem mehrere Kunden Sakkos und Mäntel aus diesem Stoff geordert hatten, war er neugierig geworden und hat sich einen Doppelreiher aus der durablen Ware gegönnt. Trotz des relativ hohen Gewichts fühlt sich der Stoff auch an dem milden Herbsttag nicht allzu warm an. Marc Anthony trägt die Hosen sehr schmal mit breiten Umschlägen, das ist sowas wie ein Markenzeichen. Kunden werden nicht zu diesem Stil gedrängt, wenn sie ihn wollen, freut sich der Chef. Er liebt klassische englische Stoffe, lehnt einen „antiquierten“ Look aber ab. Damit meint er stark strukturierte Jacken und weite Hosen. Am liebsten mag er Sakkos, die man fast gar nicht spürt, mit weicher Schulter und wenig Fütterung.
Marc Anthony steht auf und eilt in der ersten Raum. Dort verlangsamt er das Tempo und geht ein paar Sekunden an den Stoffballen entlang, zieht dann einen mit kräftigem Ruck heraus und schlägt ihn auf. „Ein leichter Covert-Stoff, in England gewebt. Das Überkaro macht ihn interessant.“ Er legt ihn mir über die Schulter und lässt mich einen Blick in den Spiegel werfen. Die meisten Maßkonfektionäre und Schneider zeigen ihren Kunden nur „bunches“ oder auf Karton geklebte Stoffproben. Marc Anthony liebt es dagegen, beim Stoff aus dem Vollen zu schöpfen. „Die Kunden können sich die fertigen Kleidungsstücke viel besser vorstellen, wenn sie ganze Stoffbahn sehen“, erklärt er, während er einen Tweed vor uns ausbreitet. „Der hier ist von Lovat Mill in Schottland, ein richtig schwerer Cheviot. Etwas leichter ist diese Ware“. Marc Anthony breitet einen hellgrünen Stoff mit blauem Überkaro aus. „Den kann man das ganze Jahr tragen“. Bei den Hemdenstoffen hält Marc Anthony es genauso. Im Raum nebenan liegen auf dem Tisch die klassischen Vollzwirnqualitäten bereit, einfarbig, gestreift und kariert. Neben der Maßkonfektion und Schuhen gibt Accessoires und ein paar Basics von der Stange, z. B. Chinos und Strick. Außerdem hängen Mäntel bereit und etliche Musterteile. Bevor Marc Anthony einen neuen Stoff ins Lager aufnimmt lässt er daraus Teile in Konfektionsgrößen zur Probe nähen, die werden dann nach und nach verkauft.
Als ich meine Aktentasche aus dem Raum mit den Anzug- und Sakkostoffen hole, komme ich wieder an dem Covert-Stoff mit Überkaro vorbei, der Ballen liegt noch obenauf. Ich lasse den Stoff durch die Hand gleiten und entschließe mich spontan zu einer Bestellung. Ich beziehe vor dem großen Spiegel Stellung und Marc Anthony holt das Maßband. Er vermisst mich ganz traditionell wie ein Schneider und notiert die Ergebnisse auf einem Bestellzettel. Anschließend sucht er die passenden Schlupfmuster aus. Vorm Spiegel besprechen wir dann Schnitt und Ausstattung des Anzugs. Die Jacke wird unstrukturiert verarbeitet, mit natürlicher Schulter und nur halb gefüttert. Bei dem Futter entscheide ich mich für die klassische weiße Variante mit feinem Streifen, für das Halbfutter der Jacke wähle ich ein Rostbraun. Die Hosen sollen in Taillennähe sitzen und werden von Seitenschnallen gehalten. Das Bein wird schmal ausfallen, die Fußweite gering. Bei der Jackenlänge folge ich Marc Anthonys Empfehlung, denn ich will den Stil des Hauses testen. Ansonsten entscheide ich mich für zwei Knöpfe, Taschen mit Patten und „ticket pocket“. Und ich nicke auch, als Marc Anthony vorschlägt, meine Initialen in das Innenfutter zu sticken. Die ganze Prozedur geht schnell vonstatten, man merkt Marc Anthony die große Erfahrung an. Beim Hinausgehen fällt mir an einer Kleiderstange ein „morning coat“ auf. Er ist aus hellgrauem Glencheck geschneidert. „Nein, das ist kein Muster, das ist meiner“, erklärt der Hausherr schmunzelnd. Der Cut steht exemplarisch für den Stil des Hauses: Classic with a twist.