Vor über zwei Jahren habe ich bei Schuh-Bertl, dem Münchener Spezialisten für rahmen- und zwiegenähtes Schuhwerk, ein Paar Maßschuhe bestellt. Durch die Pandemie verzögerte sich die Anprobe, zur Übergabe der fertigen Schuhe ist es nie gekommen. Es hatte sich einfach kein Termin gefunden, an dem ich zusammen mit Tommi Aittala oder Martin Smolka nach München hätte fahren können. Als der Bertl mich vor ein paar Wochen anrief, um mich zu einer Messe nach Berlin einzuladen, war die Gelegenheit für einen Übergabetermin mit Tommi Aittala gekommen.
Bei der Anprobe in München hatte der Schuhe schon sehr gut gepasst. Bertl war nur mit der Passform an der Unterseite des Fußes nicht zufrieden gewesen. Es ist eine Besonderheit der Maßschuhe von Bertl, dass die Brandsohle den Fuß stützt. Allerdings nicht, wie bei orthopädisch geschulten Maßschuhmachern üblich, durch eine herausnehmbare Sohle aus Moosgummi, sondern allein durch die traditionell verarbeitete Brandsohle aus Leder. In der Regel ist die Brandsohle von Maßschuhen flach, ähnlich wie bei rahmengenähten Schuhen aus industrieller Fertigung. Bei einem Maßschuh von Bertl spürt man sie dagegen deutlich unter dem Fuß. Das ist gewöhnungsbedürftig. Bertl empfiehlt neuen Kunden eine Eingewöhnungsphase.
Bei der Anprobe war die für Bertl typische Passform noch nicht spürbar. Er wollte deshalb den Schuh bearbeiten. Ich war also gespannt auf das fertige Paar. Wir hatten uns auf einen zwiegenähten One-Piece im Stil eines Haferl-Schuhs geeinigt. Bei der Laufsohle habe ich mich für Gummi entschieden, da ich die Schuhe bei jedem Wetter tragen möchte. Außerdem bevorzuge ich seit einigen Jahren eine Sohle mit mehr Dämpfung. Der Leisten des Maßschuhs, den er für mich gebaut hat, ist länger, schmaler und eleganter als man ihn von Bertls Konfektions-Haferlschuhen kennt. Dadurch wirkt der Schuh ingesamt eleganter, trotz des sportlich-rustikalen Grundcharakters. Typisch Bertl ist der tiefe Ausschnitt unter dem Knöchel und der etwas höhere Absatz.
Wir trafen uns an Bertls Stand, an dem er seine aktuelle Schuhkollektion präsentierte. Anschließend machten wir die Anprobe in der Anonymität der Öffentlichkeit. An den Ständen kümmerte sich jeder um sich selbst oder seine Kunden, wir wurden nicht beachtet. Erst als ich mit den Schuhen an den Füßen herumlief, zogen sie Blicke von Ausstellern und Besuchern auf sich.
Bertl half mir beim Hineinschlüpfen. Das Geräusch, das dabei entstand, stellte Bertl zufrieden.
Im Sitzen fühlten sich die Schuhe gut an. Länge und breit sehr angenehm, am rechten kleinen Zeh ein leichter Druck. Als ich auf den Füßen stand, beugte Bertl sich hinunter und ertastete die Lage der Zehen. Dann ließ er mich herumgehen. Ich merkte, wie sich das weiche Kalbsleder erwärmte und sich mehr und mehr an den Fuß anpasste. Wir überlegten, ob Bertl den Schuh am kleinen Zeh etwas dehnen sollten, wir entschieden uns dann aber dafür, dass ich die Schuhe zunächst richtig eintrage.
Die Passform an der Unterseite des Schuhs ist im ersten Moment ungewohnt, denn die Brandsohle folgt exakt der Form des Fußgewölbes und füllt es ganz aus. Bertl weiß, dass viele Kunden das zuerst als unangenehm empfinden, da Schuhe sonst nie so sitzen. Ich habe diese Passform aber schon nach wenigen Minuten als normal empfunden. Sicherlich gibt es Maßschuhträger, die nichts mit ihr anfangen können.
Es ist eine grundsätzliche Frage, ob man es für sinnvoll hält, den Fuß von unten zu stützen. Manche Schuhmacher sagen, dass ein gesundes Fußgewölbe keine Stütze braucht, ein Fußbett nach Bertls Manier führt ihrer Meinung sogar dazu, dass die Fußmuskulatur geschwächt wird. Andere, so auch Bertl, halten das unterstützende Fußbett für wichtig. Er selbst fertigt sogar seine Sommersandalen mit Fußbett.
Bertl lud uns zu einem leichten Mittagessen in der Nähe seines Messestands ein, danach gingen wir hinaus auf die Straße, um weitere Fotos zu machen. Dabei trug ich natürlich die Schuhe. Nach dreißig Minuten spürte ich die Schuhe gar nicht mehr, am kleinen Zehen war kaum noch Druck spürbar.
Bertl überprüfte erneut den Sitz mit den Fingerspitzen und riet zu ein wenig Geduld beim Eintragen. Grundsätzlich steht er aber auch auf dem Standpunkt, dass ein Maßschuh von Anfang an sitzen muss. Eintragen sollte man einen Maßschuh aber trotzdem – wie lange, hängt vom Schaftleder, der Art der Laufsohle und der Machart ab. Eine zwiegenähte Stiefelette aus Rindsleder mit doppelter Ledersohle ist am Anfang viel härter und unflexibler als ein leichter, rahmengenähter Loafer aus Rauleder.
Ich habe die Schuhe seit der Übergabe mehrfach getragen, jedesmal ein wenig länger. Inzwischen sind die Schuhe sehr bequem. Beim Putzen achte ich darauf, dass ich die weiße Zwienaht nicht einfärbe. Normalerweise mag ich keine Kontrastnähte, zu diesem Schuhe passt die weiße Naht aber sehr gut. Auch Bertl hat dazu geraten, sie beim Putzen nicht einzufärben.
Bertl konzentriert sich heute auf seine Konfektionskollektionen, Maßschuhe baut er viel seltener als früher. Aber er macht sie nach wie vor. Obwohl er sie zur Zeit gar nicht bewirbt, verlassen immer noch sehr viele Maßschuhe seine Werkstatt. Einige Kunden kommen seit mehreren Jahrzehnten zu ihm, er baut aber auch Schuhe für junge Leute. Stilistisch ist er dabei sehr flexibel, Bertl macht alle Modelle. Seine Spezialität sind echte One-Piece-Modelle.
Wer sich einen Überblick Bertls Arbeit verschaffen will, dem sei sein Buch über den Haferlschuh empfohlen. Es enthält sehr detaillierte Zeichnungen und Fotos des Herstellungsprozesses von Maßschuhen verschiedener Macharten. Man kann das Buch direkt bei Bertl beziehen.